Prolog - Vor langer, langer Zeit
4. Klasse, 2008
Eigentlich war es totenstill in Gnadenthal.
Wieso auch nicht? Das kleine Dörfchen, in dem so gut wie nie Autos gesehen wurden, es nur einige interessante Kirchen gab, die man besuchen konnte - zugegeben, für ältere Menschen schon ein Genuss, oder nicht? -, einen Laden, in dem nicht einmal der Besitzer sich die Mühe machte, vorbeizugucken und man sich einfach so das Geld aus der Selbstbedienung-Kasse nehmen konnte, ohne, dass es jemand merkte. Wie auch, wenn man nie einen Menschen auf den gepflasterten Pfaden sah? Wieso sollte jemand an diesem langweiligen Ort irgendeinen Lärm machen?
Der einzig interessante Ort war höchstens der Nehemia-Hof. Es war ein reinweißes Backsteingebäude, das so süß und schmuddelig wirkte wie eine Behausung für Schneewittchen und die sieben Zwerge.
Es lag in der Nähe des Waldes, der sogar bis nach Linter führte, einen Ort, der kilometerweit entfernt war.
Neben dem Hof lag ein kleiner Bach mit überwältigend reißender Strömung, und das schmutzig braune Wasser konnte einem Viertklässler sogar bis über den Hals reichen.
Der Spielplatz neben dem Hof war natürlich erste Sahne für Kids. Schaukeln, Wippen, ein kleiner Basketball- und Fußballplatz - ein Paradies für Grundschüler, die auch manchmal Klassenfahrten dorthin unternahmen.
Aber heute Nacht, es war bereits beinahe Geisterstunde, war es alles andere als still in der Jugendherberge ...
,,Alter, wirf mir mal die Cola rüber!'', grölte Tilo, dessen Stimme doch tatsächlich die dröhnende Musik übertönte, die aus den Boxen dröhnte. War eigentlich nicht so verwunderlich. Tilo war schon immer die dickste Trommel unter den Jungs der Klasse.
Leon Strippe taumelte auf das Waschbecken zu und holte eine Flasche aus dem eiskalten Wasser, warf es Tilo zu und blickte noch einmal stolz auf seine brillante Idee. Die zwanzig kleinen Getränkeflaschen in einem kalten Wasserbecken liegen zu lassen, um es kühl zu halten, war doch eine super Idee! Genauso sah es doch in den Clubs aus, die Papa ihm immer beschrieben hatte! Und da sagte man, dass Leon nicht schlau war.
Er ging auf seinen Zwillingsbruder Lothar zu, der seinen Blick in eine Ecke des Zimmers gerichtet hatte. Er sah unzufrieden aus.
Leon runzelte die Stirn. Sein Brudda sollte sich doch freuen; sie haben schon immer zu den Coolen gehört, aber - hallo?! Das war der letzte Tag, den alle zusammen als Klasse verbrachte, der Tag vor den großen Sommerferien ... den Ferien, die sie in Jugendliche verwandeln würden, denn sie kämen in die fünfte Klasse. Total aufregende Sache!
Heute waren die Betreuer mit den Lehrern aus, also hatten die Schüler freie Bahn - wer wollte das nicht? Jeder aus der Klasse war in ihr Zimmer gekommen, um ein letztes Zusammensein zu feiern. Sogar die Mädels, die sie normalerweise so bescheuert fanden - sie machten die Party ganz besonders aufregend!
Also - warum machte Lotti so ein langes Gesicht?
,,Hey Mann, was geht?''
Lotti nickte zu ihrem Stockbett, Leon folgte der Bewegung - und wurde sofort stinksauer.
Unter der blauen Sternendecke zusammengerollt, lag Dawid Nowak.
Leon schlängelte sich durch die tanzende und redende Menge auf das Bett zu und rüttelte seinen Kumpel hart an der Schulter.
,,Dave, du Idiot, schläfst du?''
Dawid, von allen nur Dave genannt - was ihn sehr nervte -, richtete sich sofort auf den Ellbogen auf. Er nickte, obwohl es nicht stimmte. Er hatte nicht geschlafen; er hatte nur versucht, Ruhe zu finden unter einer warmen Bettdecke, die nach seinem Zuhause, seiner Kindheit und Tschechien, seiner wahren Heimat, seiner domů roch. Er liebte diese Decke. ,,Ja, sorry. Ich glaub', das Wandern heute hat mich fix und alle gemacht.''
Sein ungeduldiger Freund Leon verdrehte die Augen. ,,Ey, nicht heute, okay? Wenn du schlafen willst, dann erst, wenn die Party vorbei ist - was eine Weile dauern könnte.'' Er sah ihn vielsagend an.
Dawid hatte verstanden und wischte sich mit den Finger über die Augen, ehe er aus dem Bett sprang und sich zur Tür wandte.
Leon würde ihn nicht schlafen oder nachdenken lassen, solange er in Feierlaune war. Also musste er an einem anderen Ort sitzen und sich bemitleiden.
Toller Freund, dachte Dawid sarkastisch, aber was hatte er auch schon erwartet? Außerdem würde er ihn hoffentlich eh nicht mehr sehen, nach dem Sommer.
Sommer.
Dawid schlängelte sich eiliger durch die Reihen. Zufällig entdeckte er seinen guten Freund Martin, der in einer Zimmerecke mit der Klassenzicke sah. Sogar geschminkt hatte sie sich, pfui Teufel. Und Martin lächelte sie an.
Schon fast stoppte Dawid. Martin lächelte nie, er war bekannt dafür, nie zu lächeln. Er lachte, okay, aber seltsamerweise lächelte er nie, als seien seine Gesichtsmuskeln irgendwie ... na ja, nicht da.
Da begriff Dawid.
Sein Freund hatte sich verknallt. Ach, pfui, kotz und bäh! Dawid schluckte Brechreiz und Enttäuschung gleichermaßen herunter. Warum er enttäuscht war, wusste er nicht. Es war ihm ehrlich gesagt egal.
Ihm war alles egal.
Er trat auf den gekachelten Flur des Nehemia-Hofes hinaus und atmete tief durch.
Ein Junge sollte nicht weinen, er sollte nicht mal dagegen ankämpfen müssen.
Trotzdem rollte ihm eine ganz kleine, heiße Träne hinunter. Er wischte sie genervt weg. Sein Vater hätte ihn jetzt ausgelacht.
Dawid stapfte mit dem Fuß, wie die kleinen Mädchen in den Sissi-Filmen das immer taten.
Es war so verdammt ungerecht.
Hieß es nicht immer, dass Erwachsene so viel schlauer waren als Jugendliche? Als Viertklässler? Sollten sie dann nicht sehen, dass in Dawid viel mehr steckte, als er bereit war zu zeigen?
Er meldete sich nie, er schrieb bei Arbeiten selten gute Noten und er machte häufig irgendeine Scheiße im Unterricht. Aber nach den Stunden fragte er die Lehrer oft nach dem Stoff, sagte, was er dazu wusste. Die Gesichter, die die Lehrer machten, waren dann einfach wow.
Deswegen verstand er nicht, wieso sie ihn auf die Hauptschule versetzten. Er war schlau, er wollte es auch gerne zeigen, aber ... gute Schüler gehörten nicht dazu. Sie waren nicht cool, sie waren Spitzel, Streber - und wenn Dawid schon zu Hause nicht dazugehörte, dann wollte er es wenigstens in der Schule.
Das hatte er auch - nur nicht an den Plätzen, wo es Mama und Papa wollten.
Dawid brauchte frische Luft, also ging er nach draußen und setzte sich auf die Treppe aus altem Stein. Augenblicklich ging es ihm besser, als er diese Treppe mit seiner alten Treppe in Tschechien verglich.
Auch das Betrachten seiner Umgebung besserte seine Laune. Alles sah so aus wie unter Wasser und der Mond war so weiß und hell wie ein Scheinwerfer.
Ein Zweig knackte und Dawid sah eine Gestalt aus dem Wald kommen. Augenblicklich umklammerte er das Geländer. War das ein Einbrecher? Kinderschänder? Betrunkener alter Penner?
Nein, es war nur Oliwia.
Oliwia Stanowski, das polnische Mädchen aus seiner Klasse, hatte einen weiten Pullover und weite Sporthosen an, die ihren ebenfalls weiten Körper verdeckten. Keine Frage, das Mädel hatte noch nie zu den schlanken gehört, und vor allem nicht zu den fröhlichen.
Aber heute sah ihr rundes, pausbäckiges Gesicht, im Licht des vollen Mondes so zufrieden aus, wie er es nie gesehen hatte. Er hatte sie noch nie zufrieden gesehen, ehrlich gesagt; ihr Gesichtsausdruck war einfach immer nur nichtssagend, weder gelangweilt noch mürrisch noch zickig. Etwas von allem und gleichzeitig gar nichts davon.
Ihre blauen, normalerweise so ausdruckslosen Augen strahlten, bevor sie ihn sahen und wieder so Oliwia-typisch wurden wie immer.
,,H-hi.'', stotterte Dawid und seine Finger lockerten sich etwas vom Gitter der Treppe. Es war nur die alte Schreckschraube aus der Klasse, sonst nichts. Brauchst keine Angst zu haben.
Sie erwiderte nichts.
,,W-was hast du da gemacht?'', fragte er weiter.
Sie sah ihn nur an, stand direkt vor ihm. Sie blinzelte schließlich ein paar Mal, dann nickte sie an ihm vorbei. ,,Lässt du mich bitte durch, Dave?'' Ihre Stimme war kratzig, als hätte sie seit Monaten nicht gesprochen. Wahrscheinlich hatte sie das auch - in der Öffentlichkeit.
Dawid blinzelte überrascht. ,,Öhm ... ja, ja, klar.'' Er trat beiseite und machte eine Gentleman-artige Handbewegung.
Oliwia ging an ihm vorbei, ohne ihn nochmal anzusehen.
Etwas in Dawid wollte nicht alleine sein. Selbst wenn es dieses Mädchen wäre, das niemandem nahe kam, das von niemandem richtig gemocht wurde - er musste einfach mit jemandem außerhalb des Freundeskreises und der Familie sprechen. Jemandem, den das alles nichts anging und Dawid nicht so gut kannte. ,,Hey, öhm, wo gehst du eigentlich nach den Ferien hin?'', rief er ihr hinterher.
Sie hielt überrascht inne und sah ihn mit geweiteten blauen Augen an. Oliwia war verwundert darüber, dass dieser Junge mit ihr sprach. Niemand sprach mit ihr, niemand wollte mit ihr sprechen. Gut so, es war ihr egal - jedenfalls redete sie sich das ein.
,,Äh, aufs Gymnasium. Mädchenschule.''
Dawids blonde Augenbrauen zuckten anerkennend nach oben. Wenn er mich nicht so verabscheuen würde, wüsste er, dass ich tausend mal bessere Noten schreibe als der Rest dieser Babys hier. Mehr aus Höflichkeit als aus ehrlichem Interesse fragte Oliwia: ,,Und du?''
Er verzog das Gesicht. ,,Hauptschule.''
Au Mann. Oliwias Eltern hätten sie zwar nicht umgebracht, hätte sie je eine schlechtere Note als eine 3 nach Hause gebracht, aber sie wären traurig wegen ihr gewesen. Dawids Eltern mussten dann ja schon sehr betrübte Menschen sein. ,,Ach so. Äh - mein Beileid.'', fügte sie nach einem Zögern hinzu. Jungs war es ja immer schnurzpiepegal, auf welche Schule sie kamen, welche Noten sie schrieben, Hauptsache, sie konnten irgendeinen Unfug machen.
Dawid lächelte traurig. ,,Kann ich brauchen. Meine rodiče werden mich killen.''
Oliwia hatte es gehasst und hasste es noch immer, wenn Menschen traurig waren, und obwohl sie nie mit diesem Jungen geredet hatte, konnte sie ihn einfach nicht so traurig zurücklassen. Er war ein Wesen, das Hilfe brauchte - sie hätte sogar diesen Idioten Leon Strippe vor Traurigkeit bewahrt, wenn er denn je so was empfunden hätte. ,,Hey'', sagte sie sanft und er schaute sie aus erstaunten Augen an. Sie konnte es ihm nicht verübeln - sie selbst benutzte diese Trösterei sehr selten. ,,Ist doch erst die Fünfte. Ich wette, in den nächsten Jahren wirst du besser werden.'' Im Versuch, es in eine für Jungs verständliche Sprache zu bringen, meinte sie: ,,Du musst dir einfach vorstellen, dass du ein Videospiel spielst und den Score knacken willst, von Level zu Level.''
Sein Grinsen wurde etwas echter. Nicht vollkommen, aber wenigstens etwas gebessert hatte sich seine Laune. ,,Danke für den Ratschlag.''
,,Nacht'', sagte Oliwia schließlich nach einiger Zeit, aber dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. ,,War das grade Tschechisch?''
Er nickte verwundert. ,,Ja, ich bin Tscheche - von der Abstammung. Aber woher kennst du die Sprache?''
Sie unterdrückte ein Lächeln. ,,Meine klingt ganz ähnlich. Tschechen sind unsere besten Freunde, sagt jedenfalls mein Papa.'' Auf ihre Heimat stolz sein - das war Oliwia.
Er zog die Augenbrauen hoch. ,,Interessant. Na ja, dann - danke, dass du mit mir geredet hast ... ist ja nicht typisch für dich.'' Ebenso wie diese Bemerkung über Freundschaft - es hatte sich beinahe wie eine Anspielung angehört.
Sie verzog ihr Gesicht, sodass es spöttisch wirkte, allerdings hatte sie in Wirklichkeit ein Glücksgefühl, als stünde ein Familienmitglied, das als tot galt, vor ihr. ,,Nur, wenn es Menschen sind, die mir egal sind oder denen ich egal bin.''
Dann ging das merkwürdige Mädchen wieder ins Haus und Dawid blieb draußen, bis Leon und Lotti aufhörten zu feiern.
In dieser Nacht konnte Oliwia gut schlafen; sie war glücklich, jemanden gefunden zu haben, der seiner Abstammung stolz hinterherblickte. Selbst wenn sie sich wahrscheinlich nie mehr sehen würden, wenn sie nie Freunde werden würden - sie fühlte sich trotzdem nicht mehr so allein.
Und Dawid - na gut, er hatte einige Alpträume, in denen seine Eltern ihn schlugen und in ein Heim schickten, in denen er auf eine Schule ging, wo die Lehrer einem weh taten und alles grau war, aber immer, wenn er sich von einer Seite auf die andere rollte und er für kurze Zeit aufwachte, tauchte das Bild von seiner stillen Klassenkameradin auf.
Tschechen sind unsere besten Freunde, sagt jedenfalls mein Papa.
Sie war nett zu ihm gewesen, obwohl sie es nicht hätte sein müssen. Und das schätzte Dawid irgendwie.
Na, was haltet ihr so von dem Prolog meiner Story? ;) Ich werde bald noch die ersten paar Kapitel posten, aber wenn ihr schon einige Kapitel im Vorraus lesen wollt, dann leite ich euch zu dieser Seite über.
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