Samstag, 4. Mai 2013

♥Hold your enemies close ...♥

Menschen ändern sich.

Das weiß ich schon seit sehr langer Zeit. Ich weiß, dass Menschen, die vielleicht früher wahnsinnig liebenswert und nett und tolerant waren, heute vollkommen anders sein können. Es muss nicht mal etwas Schwerwiegendes passieren; vielleicht liegt es an der Einsicht, dass kalt und herzlos zu sein einfacher ist. Wie oft im Leben wünschen wir uns, keine Gefühle zu haben? Einfach taub zu sein und ohne Rücksicht auf die Menschen, die man liebt oder geliebt hat, alles zu tun und zu lassen was man will. Ohne Rücksicht auf Verluste, Wut oder Schmerz - denn wenn man kalt ist, bereut man nichts, was man tut. Das einzige, woran man denkt, ist, dass es einem selbst gut geht und dass man Spaß hat. Man vergisst dabei völlig, wie sehr wir andere verletzen können - aber gleichzeitig kann auch uns selbst niemand mehr verletzen, und das gibt uns ein strahlendes, köstliches Machtgefühl, das befreiende Gefühl, dass einem alles egal ist. Und das macht ist es, was es so verlockend macht, seine Menschlichkeit abzulegen.
Ich sehe immerzu Menschen, Mädchen, Jungs, Männer, Frauen, Lehrer, Bauarbeiter, Schüler, aber nur noch selten echte, aufrichtige Menschlichkeit.
Sie alle gehen den leichten Weg, den, bei dem man sich nicht von seinen Gefühlen untergraben lässt, sie wollen ganz nüchtern durchs Leben gehen, ohne jedes Drama.
Ich fand schon immer, dass solche Menschen Feiglinge sind. Natürlich gibt es Dinge, die auch mir egal sind, Zeiten, in denen ich mir wünsche, nur an mich selbst zu denken, aber der steinige Weg ist der, auf dem ich mich beweisen möchte. Ich möchte gut sein, aufrichtig gut, und beweisen, dass es nicht nur Menschen gibt, die Mainstream sind und dass man, je mehr Steine man im Weg hat, immer stärker wird, mit seinen Gefühlen umzugehen weiß.
Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, sondern darum, dass Menschen sich ändern können.
Auch positiv, was aber meistens nicht der Fall ist, jedenfalls nicht in meinem sozialen Umfeld.
Deswegen war ich auch so überrascht davon, als Du auf einmal angefangen hast, mit mir zu reden.
Ich rede hier nicht von dem karottenköpfigen Volltrottel, der mein Herz in Stücke gerissen hat, falls das jemand von euch denken sollte, der diesen Eintrag liest, sondern von jemandem, den ich seit dem Kindergarten, oder sogar schon fast seit meiner Geburt kenne; unsere Mütter kennen sich wahrscheinlich sogar noch viel länger und verstehen sich sehr gut.
Im Gegensatz zu Uns beiden. 
Du bist die erste Person überhaupt gewesen, für die ich nie auch nur einen Funken Sympathie verspürt habe. Ich habe Dich zwar nie gehasst, doch trotzdem warst Du einer der letzten, mit denen ich meine Zeit verbringen wollte. Bereits im Kindergarten habe ich mir immer Mühe gegeben, Dich und dein falsches Grinsen zu meiden, habe mich hinter den großen Büschen oder in der kleinen Hütte versteckt, wenn Du daran vorbeigegangen bist, nur, damit Du mich nicht ansprichst, nicht mit mir redest, nicht mit mir spielst, einfach an mir vorbeigehst.
Wenn Du und eine Familie zu Besuch waren, dann blieb ich entweder am Tisch mit meinen und deinen Eltern sitzen, starrte auf meinen Teller, rührte das Essen allerdings nicht an und sprach nicht mit Dir, oder aber ich ging in mein Zimmer, zeigte somit der ganzen Familie die kalte Schulter, und spielte mit meinen Kuscheltieren oder dem kleinen Bauernhof von Playmobil, den ich damals wahrhaftig liebte.
Wenn wir bei euch zu Besuch waren, musste ich leider mit Dir an einem Tisch sitzen, unser privater Tisch, wie ich es immer genannt hatte, als ich klein war, allerdings war es mir niemals geheuer, Dir gegenüber zu sitzen. Von Deinen Spielsachen habe ich immer die Finger gelassen, habe nur so weit wie möglich von Dir entfernt gesessen und ferngesehen und immer nur stumm den Kopf geschüttelt, wenn Du mir eines Deiner Autos angeboten hast.
Die gesamte Grundschule lang, die fünfte, sechste, siebte, achte Klasse lang mied ich Blickkontakt zu Dir, und schon seit Jahren habe ich meiner Mutter immer gesagt, wenn sie Dich und deine Familie besuchen wollte: Nein, ich bleibe zuhause, ich komme nicht mit.
Und wenn Mama fragte, warum, dann sah ich sie mit diesem Blick an, den ich allzu oft benutzte, wenn es um Dich ging. Der Blick mit den hochgezogenen Augenbrauen, dem leicht schief gelegtem Kopf, der sagt Ist das eine rhetorische Frage? Du weißt doch, warum.
Ich glaube, so ziemlich jeder wusste die Antwort auf die Frage, selbst Außenstehende, denn ich machte aus meiner Abneigung Dir gegenüber genauso wenig ein Geheimnis wie Du es mir gegenüber tatest. Wenn wir uns auf der Straße begegneten, sah ich schnell weg oder änderte meine Richtung, in die ich gerade unterwegs war, und meine Mutter musste sich dann immer von Deiner anhören, was für ein unhöfliches Biest ich doch war, weil Du natürlich petzen musstest.
Das hast Du immer gemacht, seit wir uns kennen: Mich schlecht machen. Egal, was ich auch tat, Du hast immer darauf gewartet, dass mir ein Fehler unterläuft, und dann hast du ein Riesending daraus gemacht, als ob es ein gewaltiger Skandal wäre, was ich getan hatte, egal ob es einfaches Nicht-Begrüßen oder einfach nur Essen-an-den-Fingern-ablecken war, was für kleine Kinder doch normal ist. Mit diesem Petzen und dem überlegendem Grinsen, dass Du mir immer geschenkt hast, wenn Du meine Untaten berichtetest, hast Du es wirklich geschafft, mich schon im Alter von nur 3 Jahren zu nerven, und das hat sich weitere 11 Jahre lang so gezogen.
Keine Ahnung, warum Du Dich so an mir vergriffen hast; ich habe Dir nie etwas getan, Du hattest immer mehr als ich, was Spielzeuge oder bessere Noten oder sonst was angeht, und zu Deinen Eltern hatte ich ebenfalls nie einen guten Kontakt, nicht mal einen zufriedenstellenden; wir haben einander toleriert, aber nicht mehr. Ich habe Dir weder etwas genommen, noch habe ich Dich je so lächerlich gemacht wie Du mich. Ich habe das einfach auf mich genommen, ohne zu protestieren.
Aber vor ein paar Wochen waren Du und Deine Familie bei uns, und irgendwas zwischen uns beiden hat sich verändert.
Von meiner Mutter weiß ich, dass Du in den letzten Jahren viel durchmachen musstest. Das muss jeder, bei dem Krebs diagnostiziert wird. Und so grausam es auch klingen mag, ich hatte zwar Mitleid mit Dir und deinen Freunden und deiner Familie, weil ihr diese Last tragen müsst, aber ich habe Dich immer noch nicht gemocht; Du warst mir ehrlich gesagt immer noch völlig gleichgültig.
Wenn Du ein guter Mensch gewesen wärst, der mich mein Leben lang vielleicht freundlich behandelt hätte, und nicht so, als sei ich eine Missgeburt, als sei ich jemand, der nur dazu da war, um Dein ,tadelloses Benehmen' hervorzuheben, dann hätte es mir vielleicht etwas ausgemacht - aber Du warst kein guter Mensch, nicht aus meiner Sicht.
Du hast Dich ständig über alle lustig gemacht, hast nur die Fehler anderer gesehen und mit dem Finger auf sie gedeutet, anstatt Deine eigenen zuzugeben. Alle sollten tun, was Du wolltest und wie Du es wolltest, Du dachtest immer, Du wärst der Mittelpunkt der Welt, und alle anderen waren Dir egal.
Glaube mir: All mein Mitleid floss quasi dahin, wenn Du nur den Mund aufgemacht hast.
Aber irgendwas hat sich geändert. Ich weiß nicht, ob es an dem Krebs liegt, ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich jetzt zurückgiften kann, wenn jemand mich kritisiert, ich weiß nicht, ob es einfach daran liegt, dass wir beide viel verloren haben, nur aus anderen Gründen. Wir hatten nie auch nur eine Gemeinsamkeit, keine Parallelen, falls wir geredet haben, dann nur, um dem anderen zu widersprechen oder eine bissige Diskussion anzufangen, die entweder mit einem überlegendem Grinsen oder einem frustrierten Schweigen von uns beiden endete.
Veränderungen sind nicht nur negativ; jedenfalls nicht die, die Du anscheinend gemacht hast.
Ihr wart zu Besuch, und ich spielte eine Weile lang mit, weil mir mittlerweile klar geworden ist, dass ich nicht jeden einfach nur ignorieren kann, der mir nicht gefällt. Außerdem tatet ihr mir, wie gesagt, sehr Leid, und deswegen war ich höflich, zuvorkommend, offen und riss sogar Witze. Und wenn Du mal wieder unterstreichen wolltest, wie besserwisserisch Du warst, habe ich mir das einfach nicht gefallen lassen und habe so lange mit Dir diskutiert bis Du schließlich aufgabst. Aber wenn ich mich daran zurückerinnere fällt mir auf, dass da kein Frust in deinen Augen war, eher so etwas wie Überraschung - und danach hast Du mir sogar recht gegeben!
Als ich schließlich in mein Zimmer ging, merkte ich, dass Du mir gefolgt bist.
Und Du hast einfach angefangen, mit mir zu sprechen. Nicht in diesem Ton wie sonst, dem Ton, der aussagte, dass ich 3 Jahre jünger bin als Du, dass ich nur ein kleines, dummes Mädchen bin, sondern in einem freundlichen Ton. In deinen Augen war immer noch etwas Distanziertes, deine hinter dem Rücken verschränkten Arme teilten mir das ebenfalls mit, aber ansonsten warst Du ganz freundlich und hast versucht, irgendein Thema zu finden, über das wir reden können.
Erst blieb ich kalt, antwortete nur mit JA oder NEIN oder sagte einfach gar nichts. Ist doch ganz gewöhnlich, dass man misstrauisch bleibt, wenn die Person, die einem das Leben erschwert, auf einmal nett zu Dir ist.
Aber nach einigen Minuten war es nicht mehr unangenehm, wir beide tauten ein wenig auf und wurden lockerer. Saßen einfach nebeneinander auf meiner Fensterbank und redeten über die Schule, merkwürdige Lehrer, unsere Hass- und Lieblingsfächer, über unserer beider Väter, und erfuhren wahrscheinlich Sachen voneinander, die wir vorher nicht wussten. Ich hatte nicht gewusst, dass Du gut kochen konntest, ich hatte nicht gewusst, dass Du Geschichte liebst, ich hatte nicht geahnt, dass wir so viel gemeinsam hatten.
Aber letztendlich habe ich eine Art Verbundenheit mit Dir gespürt. Natürlich sind wir von einer Freundschaft noch meilenweit entfernt, ich werde Dir wahrscheinlich nie von meinen Geheimnissen erzählen, ich werde mich wahrscheinlich nie trauen zu sagen, wie Leid es mir tut, was mit Dir geschehen ist und dass Du jeden Tag mit der Gefahr zu kämpfen hast, dass Dein letzter Atemzug nur Sekunden, Stunden, Tage, Wochen, Jahre entfernt sein könnte. 
Ich habe Dich in meiner Gegenwart noch nie so entspannt und locker gesehen, Du hast gelacht, gelächelt, keine Kälte, sondern milde Wärme in deinen halb blinden Augen gehabt.
Und als ihr gegangen seid, war ich sogar ein wenig traurig, und Du wolltest gar nicht mehr aufhören, mit mir zu reden; Deine Eltern mussten Dich fast schon aus unserer Wohnung schleifen.
Warum? Was hat Dich dazu veranlasst, mir in mein Zimmer zu folgen und so zu tun, als hättest Du mich nie verachtet? Schon klar, Du hast deine idiotischen Kommentare abgegeben, aber sie wirkten nicht so aggressiv wie sie es gewöhnlicherweise waren; eher nur neckisch und wie ein Seitenhieb von einem guten Freund, und ich neckte daraufhin zurück. Was habe ich getan, damit das passiert? Oder lag es vielleicht gar nicht an mir, sondern an jemandem, der Dich dazu überredet hat, mir gegenüber höflicher zu sein - obwohl, wenn dies der Fall wäre, dann hättest Du es wahrscheinlich in Gegenwart von dieser Person getan, und nicht, wenn wir alleine waren ...
Ich verstehe jetzt einfach gar nichts mehr, ich bin verwirrt, weil es sich gut angefühlt hat, mit Dir Zeit zu verbringen und zu lachen, aber gleichzeitig fühlte es sich so unecht an. Wie eine Seifenblase kurz vor dem Platzen ...
Vielleicht können Feinde auch Freunde werden, oder zumindest keine Feinde mehr sein. Ist das nicht so ein Sprichwort? Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher, oder so etwas Ähnliches?
Trifft das auf uns zu? Sind wir keine Feinde mehr? Haben wir uns beide verändert, sodass unser Kriegsbeil begraben ist?
Ich gebe es irgendwie nur ungern zu, aber ...
ich
hoffe
es.


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