Samstag, 31. Mai 2014

♥His name is not daddy♥

Gestern ist mal wieder einer dieser Tage vorbeigezogen, deren Sinn mir unklar bleibt.

Vatertag.

Wozu ist ein solcher Tag da? Wozu existiert er neben Valentins-, Mutter- und Kindertag?
Nur, damit sich sowohl Liebende als auch Eltern und deren Kinder nicht benachteiligt fühlen, sodass jeder einen eigenen Feiertag besitzt? Nur, damit auch jedem Bürger unserer Gesellschaft klar wird, dass er etwas Besonderes ist und es deswegen verdient, ein Mal im Jahr international gefeiert zu werden?
Es gibt bestimmt viele solcher Menschen, die einen solchen Feiertag verdienen. Mütter und Väter opfern oft ihr Leben für das eigene Kind auf, verwöhnen es nach Strich und Faden, geben ihm alles, was es will, das Kind steht im Zentrum ihrer Welt. Natürlich sollte es dann einen Tag geben, an dem das Kind sich für diese harte Arbeit seiner Eltern auch erkenntlich zeigt.
Allerdings kann man dasselbe Argument verwenden, das ich auch schon zu Zeiten des  Valentinstags gebracht habe: Warum sollte man sich nur an einem speziellen Tag im Jahr  seinem Vater ein Geschenk mache Mutter oder seinem Vater ein Geschenk machen, wo diese Menschen einen doch gewöhnlicherweise das ganze Leben über begleiten und die schützende Hand auf die Schulter ihres Kindes legen? Nur ein Tag pro Jahr soll dafür genutzt werden, seine Dankbarkeit auszudrücken? Für ein ganzes Leben, das einem geschenkt und erleichtert wurde?
Nein. Man sollte jeden Tag seines Lebens zeigen, dass man seine Eltern liebhat. Wir haben alle mal schlechte Tage, das ist vollkommen natürlich, und weil wir Menschen voller Makel und verschiedenen Eigenarten sind, können wir uns nicht immer richtig verhalten. Jeder hat seinen Eltern mal nicht den nötigen Respekt entgegengebracht oder genervt reagiert; vielleicht hat derjenige seine Eltern sogar mal verwünscht. Den Wert seiner Eltern für einen Moment zu vergessen, kann uns allen mal passieren. Das Wichtigste ist, dass wir ihnen zeigen, dass wir, selbst wenn wir uns manchmal respektlos verhalten oder ihre Art, uns vor etwas beschützen zu wollen, nicht akzeptieren, sie dennoch lieben; denn sie lieben uns mit all unseren Fehlern, also müssen wir lernen, ihre Fehler ebenso zu lieben oder generell zu lieben. Ein kleines 'Dankeschön' und ein Kuss auf die Wange, wenn der Vater einen zur Schule fährt. Ein heißer Kaffee, den man für seine Mutter nach einem schweren Arbeitstag zubereitet, ohne dass sie darum bitten muss. Seine Hilfe anbieten, wenn etwas getragen werden muss. Fragen, ob alles in Ordnung ist. Kleine Zeichen, jedoch werden sie garantiert von den Eltern bemerkt werden und eine Vielzahl von ihnen wahnsinnig freuen.
Aus diesem Grund sind solche Feiertage alles andere als nötig, weswegen es durchaus verständlich ist, keine Geschenke zu kaufen. Warum sollte man etwas nur an einer festgelegten Zeit feiern, wenn dieses Etwas das Leben eines jeden seit der Geburt berührt und stetig beeinflusst?

Bestimmt stimmen dem einige nicht zu. Vielleicht sieht man in dieser Einstellung ein schlecht erzogenes oder faules Kind.
Aber bevor ihr urteilt - was ist, wenn ein Elternteil diesen Feiertag nicht würdig ist? Wenn dieser Elternteil allem widerspricht, was einen solchen ausmacht? Wenn er sich nie Zeit für sein Kind nimmt? Würdet ihr ihn dann ebenfalls beschenken und ihm diese Ehre zuteil werden lassen?
Wenn ja, dann fragt euch, warum. Weil dieser Elternteil einer der Menschen ist, die dich gezeugt haben und allein deswegen ein Geschenk von seiner Schöpfung verdient?
Macht das einen Elternteil denn aus? Die Blutverwandtschaft, die Ähnlichkeit in Gesichtszügen und Charakter, die biologische Vater- oder Mutterschaft?
Nein. Denn so ist jeder der beste Vater oder die beste Mutter der Welt. Selbst solche Menschen, die ihr Kind unbeaufsichtigt lassen, sich nicht darum scheren, wenn es sich verletzt, solche, die ihre Hand gegen ihr eigenes Fleisch und Blut erheben, solche, die dieses Schicksal niemals freiwillig gewählt hätten.

Was also sollte einen Elternteil können? Lässt es sich überhaupt definieren, was ein Elternteil können sollte, um dem Titel eines wahren Vaters oder einer wahren Mutter gerecht zu werden?

Die Antwort ist einfach, aber zugleich unendlich facettenreich: Ein Elternteil sollte lieben und dies auch zeigen können.
Natürlich klingt dies viel zu simpel. So gesehen bräuchte ein Vater, der seinem Sohn ein blaues Auge verpasst hat, weil dieser nicht ertragen kann, wie der Vater die Mutter misshandelt, nur ein Ich liebe dich vorzubringen, und alles wäre im Lot. Aber Worte sind bloß Worte. Wir können sie sagen, ohne sie zu meinen, wir können Dinge schwören, an die wir nicht glauben, wir können Menschen das sagen, was sie hören wollen, obwohl wir dies nur tun, damit der Gegenüber endlich schweigt oder einen in Ruhe lässt.
Das, was einen Menschen ausmacht, sind nicht seine Worte, denn Gerede kann immer schön klingen; nein, das, was uns ausmacht, sind Taten. Denn was nützt es, Dinge zu denken und bestimmte Vorstellungen von unserer Umgebung zu haben, wenn wir diese nicht auch zeigen und aus vollem Herzen ausleben? Dann sind wir nicht die, die wir tatsächlich sind, sondern nur die, die wir gerne wären. Doch fehlt uns der Mut dazu, uns zu verwirklichen.
Wie also zeigt ein Elternteil seinem Kind Liebe?
Nicht, indem es das Kind versorgt. Nicht, indem es ihm Essen oder Trinken vor die Nase setzt. Nicht, indem es ihm Spielzeuge kauft oder mit allem durchgehen lässt. Man zeigt seinem Kind auch keine Liebe damit, dass man ihm ständig alles aus der Hand nimmt und Arbeiten für es erledigt.
Ich zumindest finde, Liebe zeigt sich durch den Umgang der einen Person mit der anderen. Ob die Nähe des jeweils anderen gesucht wird, wie oberflächlich die Gespräche sind, wie tief das gegenseitige Vertrauen ist, wie genau man seinen Gegenüber tatsächlich kennt. Letzteres kann man selbstverständlich nur beantworten, wenn man regelmäßig miteinander kommuniziert und dies auch abwechslungsreich gestaltet. Was nützen denn festgesetzte Sätze, die man jeden Tag aufsagt, um danach kein Wort mehr miteinander zu sprechen? Was sind denn solche Fragen wie Wie war es in der Schule?, Hast du schon gegessen? oder Wie lief die Klausur?, die man nach einem Schultag bestimmt gestellt bekommt? Meiner Ansicht nach sind das Floskeln. Ebensolche Floskeln wie Wie geht es dir? oder Was machst du?; Fragen, deren Antwort niemanden interessiert, da man sowieso solche standardisierten Antworten erwartet wie Gut oder Nichts. Fragen, die man aus Höflichkeit stellt und als Stütze nutzt, um zu einem interessanteren Gesprächsthema zu finden.
Eines steht fest: Solche Fragen reichen bei weitem nicht aus, um sich ein Bild über eine Person machen zu können. Nicht mal, um diese Person als guten Bekannten zu bezeichnen. Auch nicht, um eine engere Bindung zu ihr aufzubauen. Das sind Sätze, die man zu seinen Klassenkameraden sagt, wenn man niemand anderen zum Reden hat und Smalltalk betreiben möchte, um nicht unhöflich zu erscheinen.
Und von Eltern und deren Kindern sollte man meinen, dass die Gespräche tiefer gehen, die Beziehung enger ist, das Band nicht lose, sondern festgeknotet ist.
Von daher sind Gespräche das A und O in einer jeden zwischenmenschlichen Beziehung, egal ob es um den Verlauf des Tages, bestimmte Personen oder Probleme geht, die jemand besitzt und unbedingt Ratschläge benötigt. All jenes zeugt von Vertrauen und einer Sicherheit, die von beiden Seiten gewährleistet ist.

Doch was soll man tun, wenn der eigene Vater ein Fremder ist und auch ein Fremder bleiben möchte?


Stellt euch ein kleines Mädchen vor, das jedes Wochenende zusammen mit ihrer Mutter in ihrem Kinderzimmer eingeschlossen sind. Die Mutter kauert auf dem Bett, drückt sich ein Kissen vor den Mund und schaut mit glasigem Blick vor sich hin. Das Mädchen baut Bauernhöfe und Landschaften aus kleinen, vielfarbigen Legosteinen und Würfeln, setzt Spielfiguren in Form von Menschen und Tieren in die kleine Welt, die es sich erschaffen hat, und vergisst das kleine, gedrungene Zimmer um sich herum, konzentriert sich nicht auf die stille Mutter oder die polternden, drohenden Schritte, die außerhalb dieses kleinen Raums durch die Wohnung hallen. Bei jedem Schritt zuckt die Mutter zusammen, das Mädchen schaut kurz auf und versinkt wieder in ihre Welt, in der es nur grüne Felder und Natur gibt, in denen Mensch und Tier friedlich nebeneinander leben.
Stöhnen, Schreie, die sich an Personen und Dinge wenden, die es nicht gibt. Zersplittertes Glas, dessen Klang auf dem ebenen Boden nicht zu überhören ist. Schaben und Kratzen an den Wänden der Wohnung. Heißes Wasser, das eingelassen wird, bis es aus der Badewanne überläuft und der flauschige Teppich auf den Badezimmerfliesen es einsaugt. Schnarchen, das davon zeugt, dass die Gefahr vorüber ist. All diese Geräusche sind seit Jahren Alltag für das verträumte Mädchen und die kummervolle Frau.
Setzte eine der beiden einen Fuß aus dem Zimmer des Mädchens, so erwartet sie ein verwüsteter Flur einer Wohnung, die nicht davon zeugt, das jemand anderes sie bewohnt als wütende Dämonen. Das Schnarchen übertönt die zögerlichen, leisen Schritte der Mutter mit ihrem Kind. Das Kind bleibt vor einer Wand stehen, das Fotoaufnahmen ihrer Familie zeigt, die in einem Mosaik angeordnet sind. Viele der Aufnahmen sind zerrissen, an der glatten Oberfläche der Fotos fließt dunkles, dickflüssiges Blut hinab und tropft auf den Untergrund, der die weggerissenen Teile der Bilder willkommen hieß, als diese friedlich zu Boden segelten. Das Mädchen versteht nicht, wie es zu all dem hier gekommen ist, schaut sich suchend nach ihrer Mutter um; sie traut sich nicht, ihre Stimme zu erheben.
Die Mutter erwidert ihren Blick. Würden gewisperte Worte genügen, um all der Verzweiflung und dem Schrecken, den sie durchleben, Ausdruck zu verleihen?
Sie räumen die Sauerei auf. Scherben der zerbrochenen Vasen und Teller - ebenfalls mit Blut gezeichnet - werden entsorgt, es werden Handtücher, Seife, Wasser und Schwämme benötigt, um die Blutflecken an Wänden, Boden und Gegenständen zu entfernen, der Saugnapf der Badewanne wird herausgezogen, um das bereits kalte Wasser in die Kanalisation abziehen zu lassen.
Wenn die jetzigen Erinnerungen und die kommenden doch ebenso leicht fortgespült werden könnten ...
Das Wohnzimmer aber betreten sie nicht. Sie treten dem Mann, der gewütet hat, nicht unter die Augen. Sie wollen ihn nicht sehen, sie wollen nicht riskieren, dass er sie verletzt. So bleibt das Wohnzimmer der einzige Ort, an dem sich der Gestank nach Alkohol, Zigaretten und Erbrochenem nicht verflüchtigt hat.
Der Mann, so hat die Mutter mal gesagt, hieße Papa. Und wann immer das Mädchen ihn sieht, fühlt sich dieser Name falsch auf der Zunge an.

Was denkt ihr, wie viel sich die Mutter anhören musste von diesem Mann? Welche Vorwürfe, wie viele Schläge sie in Kauf nehmen musste, bevor sie den Mut aufbrachte, ihn zu verlassen? Was er ihr alles genommen hat, weil er selbst nichts besitzt, was sein Leben zu einem lebenswerten macht? Die Wohnung behält er. Den Großteil des Geldes behält er, selbst wenn die Frau ein Mädchen zu versorgen hat. Die Hälfte des Guthabens auf dem Sparbuch des Mädchens wird geleert, obwohl sich die Mutter nicht damit einverstanden erklärt hat; sie hatte ursprünglich vorgehabt, dem Mädchen damit ihr erstes Auto zu kaufen, wenn dieses ihren Führerschein besitzen würde. Und dann, in einer lauwarmen Nacht in einem fremden Land, als Frau und Mädchen das Auto benutzt haben, um alte Freunde nach Hause zu fahren, reißt er die Beifahrertür auf, zerrt das Mädchen hinaus, zwingt die Mutter, auszusteigen, mit der Begründung, das Auto sei sein Eigentum, und lässt diese beiden alleine in diesem Land zurück. Ohne jegliche Gewissensbisse.
Das ist der Moment, in dem das Mädchen aufgehört hat, diesen Mann Papa zu nennen.

Jahre später haben Mutter und Tochter sich ein Leben aufgebaut. Bescheidene Wohnung, bescheidendes Einkommen, kein nennenswerter Lebensstandard. Die Mutter hat alle Hände voll zu tun, sie und ihr Mädchen über Wasser zu halten, und spart eisern. Das Mädchen geht zur Schule, macht Hausaufgaben, will möglichst keine Schwierigkeiten machen. Sie erzählt ihrer Mutter nicht davon, dass sie weiß, dass diese ihren Erzeuger heimlich trifft. Sie ist zwar wütend, ja, ehrlich gesagt keimt sogar Hass in dem Mädchen auf, wenn sie daran denkt, dass diese Frau so terrorisiert worden war und sich freiwillig in die Arme des Monsters zurückbegibt. Wann immer sie ihre Mutter telefonieren sieht, durchbohrt sie diese mit Blicken und steht mit verschränkten Armen am Türrahmen. Aber sie sagt nichts. Vielleicht hätte sie das tun sollen, aber sie konnte damals nicht. Vielleicht hatte sie nicht genug Mut oder zu viel Angst, oder vielleicht ekelte sie sich einfach vor ihrer Mutter und dem Kerl. Was immer es war, es riet ihr, den Mund zu halten.

Schließlich ist der große Tag gekommen: Der Mann bittet um Vergebung und schwört, sich geändert zu haben. Will seine Exfrau und sein Kind zurück. Verspricht, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken.
Mit bittenden Augen sieht die Mutter ihre Tochter, inzwischen 12 oder 13 Jahre alt, an, als sie ihr davon erzählt. In ihren Augen keimt der verräterische Funken der Hoffnung. Dem Mädchen wird schlecht. Sie will ihn nicht. Sie war damals noch klein, hat nicht begriffen, was damals vor sich gegangen ist, aber das Leben hat sie inzwischen gelehrt, dass man sich nicht in selbst erbauten Welten verkriechen kann, denn die echte Welt ist die, der man sich stellen muss. Und diese Welt hält einen Mann bereit, der so furchtbar zu ihnen gewesen ist, dass er sie beraubt hatte, nicht nur ihres Besitzes, sondern auch ihres Lebensglücks. Warum will sich ihre Mutter bloß wieder in dieses Loch stürzen, aus dem es kein Entrinnen gibt?
Das Mädchen ist dickköpfig und gibt sich kaltschnäuzig. Es bricht ihr das Herz, ihrer Mutter diesen Wunsch zu verweigern, aber wenn diese nicht imstande ist, sich selbst zu beschützen, wer soll sich dann vor sie stellen und alles Böse von ihr abwehren?
Die Mutter hört nicht auf, den Mann zu treffen, und das Mädchen lernt selbst, dass die Liebe eine gefährliche Droge sein kann. Ihre Mutter wird von dieser mehr und mehr gezeichnet, lässt ihn in sich herein, wird das kleine, sich aufopfernde Weib, das sie in damaliger Zeit gewesen ist. Sobald das Mädchen eines Tages bemerkt, dass er hier ist, in ihrer neuen Wohnung, kann sie es nicht glauben. Sie gleitet langsamen Schrittes zum Wohnzimmer und sieht ihre Mutter und ihren ... Vater. Das Monster mit den grauen Augen, das sie reserviert betrachtet. Sie schaut furchtlos zurück. Keiner der beiden begrüßt den anderen. 
Das Mädchen bleibt sehr lange Zeit reserviert und spricht so wenig wie möglich mit dem Trinker, der immer häufiger in ihrer Küche oder Wohnzimmer aufzufinden ist. Er selbst weiß auch nicht, wie er auf das Mädchen, das er gezeugt hat, zugehen soll, er kann sie nicht einschätzen, weiß nichts über sie. Er kennt ihren Namen und ihr Alter, aber abgesehen davon kann er beim besten Willen nichts über sie sagen. Er versucht sich einzureden, dass das so in Ordnung sei. Er ist immerhin der Vater, er sollte in so einer Position sein, die weder Nähe noch Verletzbarkeit zeigt. Aber dennoch widerstrebt es ihm, diesen glühenden Zorn in den Augen zu sehen, die denen ihrer Mutter so ähnlich sind, jedoch haben ihre noch niemals so gelodert wie die ihrer gemeinsamen Tochter. Das junge Mädchen besitzt ein Feuer, das er nicht kennt, auch nicht von sich selbst. Wie kann er auf das Mädchen zugehen ohne sich daran zu verbrennen?
Er beginnt, die Mutter auszufragen. Ob sie Sport treibe, welche Art von Filme sie gerne schaue, ob sie gerne Bücher läse, wie oft sie in der Woche weggehe, und weiteres. Denn um ehrlich zu sein, hat er sich nicht groß darum gekümmert. Das Wichtigste für ihn ist gewesen, seine Frau wieder zu erobern. Denn ... die Wohnung war schmutzig und leer ohne sie. Er hat kein warmes Essen auf dem Tisch stehen, keine saubere Kleidung, kein Geld, keine Arbeit. Er muss nun etwas von dem, was er verloren hat, wiederfinden. Angefangen bei seiner Familie.
In den nächsten Wochen bemüht er sich sowohl um die Mutter, als auch um die Tochter. Pralinen und Rosen, ein spärlich zubereitetes Essen, das mangels Ahnung vom Kochen noch roh und ungenießbar ist, ein paar Ausflüge ins Schwimmbad.
Die Tochter wird misstrauischer als je zuvor, aber zugleich durchströmt sie ein Gefühl der Wärme, das sie nicht kennt und am liebsten niemals kennengelernt hätte. Es hat ihre Willensstärke, diesen Mann zu hassen, geschwächt.
Irgendwann erwidert sie sein Lächeln. Irgendwann spricht sie ihn mit Papa an.
Irgendwann zieht der Mann zu ihnen und gibt die alte Wohnung auf. Das Mädchen ist dagegen gewesen, auch wenn sie sich nun etwas weniger dagegen sträubte, diesen Mann als ihren Vater anzusehen. Sie hat gesehen, dass er sich Mühe gegeben hat, ihnen zu zeigen, dass sie ihm etwas bedeuteten; auch wenn viele Versuche misslungen sind, es ist der Gedanke, der zählt.
Die Mutter allerdings ist die ersten Wochen vollkommen euphorisch. Sie strahlt den ganzen Tag über, weil ihr Wunsch nach einer Familie endlich in Erfüllung gegangen zu sein schien.

Ende gut, alles gut?

Oh nein.
Denn kaum ist der Vater zu seiner Frau und seiner Tochter gezogen, so hört er auf, sich anzustrengen. Keine gemeinsamen Ausflüge mehr, keine Geschenke, egal ob zum Geburts- oder Hochzeitstag, keine mühevoll aufrecht erhaltenden Gespräche mehr. Er arbeitet, geht heim, sitzt vor dem Fernseher und lässt sich von seiner Frau bedienen, wenn er hungrig oder durstig wird. Ihr zur Hand gehen oder auf die Idee zu kommen, dass er sie wie eine Sklavin behandelt und sie doch auch diejenige ist, die am Tag 12 Stunden arbeiten muss und sie doch sicher erschöpft ist, kommt ihm nicht in den Sinn. Er hat sein Ziel erreicht: Er ist nicht mehr allein. Er hat sein Überleben gesichert. Nun gut, er trinkt nicht mehr, das muss man ihm zugute halten, aber ansonsten hat sich keine Veränderung seines Geistes getan.

Und das Mädchen?

Ein Blitz zerreißt sie in zwei Teile.

Ein Teil ist voller Bitterkeit gegenüber diesem lebensmüden Mann, der nichts tut außer auf seinem Allerwertesten zu sitzen und sich von Nachmittagsprogrammen berieseln zu lassen. Sie ist wütend darauf, dass er sie so leicht hinters Licht führen konnte und sich nun alles wieder zum Alten gewendet hat. Der König des Hauses, der von der treuen Sklavin bedient wird und eine Tochter besitzt, die eher eine Statistin als ein fester Bestandteil seines Lebens ist. Am liebsten würde sie ihm an die Gurgel springen für sein Verhalten. Nicht nur, dass er keinen Finger rührt, nein, er kritisiert so vieles und jeden, obwohl er selbst überhaupt keine Talente besitzt und weniger zustande bekommt als die meisten Menschen des Planeten; nicht zu vergessen, man darf diese Person niemals kritisieren, denn er muss perfekt sein und ist dies auch, egal, was er kann oder nicht oder was er tut oder nicht, und jeder, der seine Perfektion infrage stellt oder auf seine Vergangenheit anspielt, wird brutal (ob auf physische oder verbale Weise) zum Schweigen gebracht. Wahnsinn leuchtet in seinen Augen auf, wenn er seine Tochter anbrüllt, sie solle den Mund halten. 
Dachtet ihr etwa, das Mädchen würde einen solchen Patriarchen auf sich sitzen lassen?
Nein, sie ist keine Sklavin und sie ist auch keine Statistin. Sie weiß, dass sie mehr wert ist und dass sie ihren Vater in vielem übertrifft. Warum sollte sie dies verstecken, warum sollte sie ihre Meinung nicht preisgeben? Wenn sie eines gelernt hat, dann, nur sich selbst zu gehorchen und sich in keine Rollen einzwängen zu lassen.

Der andere Teil hasst ersteren und wird von diesem ebenso gehasst. Das Mädchen nämlich ist das, das sich nach einem Vater sehnt. Das die Zeit, in der sie etwas zusammen unternommen haben, als Stunde ihrer Geburt nennen kann und mit jedem Stück weniger Aufmerksamkeit stetig gewachsen ist. Das ist das Mädchen, das Papa sagt und an die Bedeutung des Wortes glaubt. Dieses Mädchen nutzt ihre Talente, um ihren Vater aus der Reserve zu locken. Den, in dem sie trotz all seinen grausamen Taten einen Helden sieht, weil er seine Sucht besiegt hat und sich gegen die Flasche, und für die Familie entschieden hat. Eine Entscheidung, die seit Ewigkeiten hätte getroffen werden müssen. 
Sie will einen Vater haben, der stärker ist als sie selbst, zu dem sie aufschauen kann, der ihr eine Richtung weist, die sie auf einen sicheren Weg durchs Leben bringt.
Sie klammert sich so sehr an die Hoffnung daran, dass ein Held in ihrem Vater steckt, dass sie ihn nur herauskitzeln muss, sei es durch das Erfreuen seines Gemüts oder durch das Reizen oder Anstacheln. Es muss eine Möglichkeit für ihn geben, das Potential, das er hat, hinauszulassen.
Doch sie übersieht dabei völlig, dass er dies als nicht nötig ansieht. Wozu soll er kämpfen, wenn er alles hat, was er braucht? Wozu sich dann noch um die kleine, dumme Tochter kümmern, die nicht das sagen kann, was sie will, sondern immer brav den Wünschen ihres Vaters nachgehen muss?
Doch so will sie nicht sein. Sie hat das Feuer der Stärke und würde es um nichts aufgeben, auch nicht um die Aufmerksamkeit ihres Vaters willen.
Deswegen will sie ihre Leistungen steigern und zeigen, was sie kann. Wenn sie selbst eine Heldin ist, wird sich vielleicht auch eine heldenhafte, tugendhafte Seite in ihm regen?

Findet ihr, so ein Mann hat den Vatertag verdient?

Das Mädchen hat ihn beschenkt. Es war kein pompöses Geschenk, sondern nur eine Tafel Schokolade - was hätte sie diesem Fremden, den sie Papa nennen muss, auch sonst geben sollen, wo sie doch nichts über ihn weiß?
Sie schrieb ihm hierzu einen Brief, in dem sie beschreibt, dass sie sich für dieses Geschenk entschieden habe, weil ihr nichts über ihn bekannt ist und sie viel zu wenig miteinander sprachen, um solche Informationen tatsächlich einholen zu können. Dies sei so eine Ironie - der Mensch, der ihr am nächsten stehen sollte, ist ihr kaum bekannt.
Sie hatte Hoffnung, der Brief würde etwas in ihm wecken. Natürlich steht das Beschriebene dort in sehr viel ausführlicherer Gestalt auf dem Kästchenpapier, das sie ihm auf die Schokoladenpackung gelegt hatte; die Adressierung lautete An den perfekten Hausmann. Ihr merkt, das Mädchen hat eine durchaus zynische Seite.
Schließlich ging der Vater auf sie zu, drückte ihr den Brief in die Hand und sagte:


,,Es ist mir egal, was für ein Geschenk ich bekomme. Das Wichtigste ist, dass du gesund bist und gute Noten schreibst. Aber danke, die Schokolade war lecker.''

Und das war alles. 
Auf eine DIN-A4-Seite voller ausgedrückter Gefühle, herzhaften Worten und einer Arbeit, in der die Tochter einen solchen Großteil ihrer Seele hat hineinfließen lassen, war das die Antwort.
Die Tür schlug zu und das Mädchen starrte mit leerem Blick auf den in Schönschrift verfassten Brief. Die Buchstaben verschwammen zu Wellen und Sätze wurden zu einem einzigen großen Wort. Eine Träne lief dem Mädchen die Wange hinunter und tropfte auf den Brief. Auf diesen wertlosen Brief.
Das Schlimmste an dieser Antwort?
Sie beinhaltete nichts Stichhaltiges. Nichts, das von Liebe zeugt. Gesundheit - ist zwar wichtig, aber das wünscht man auch der alten Nachbarin, die man kaum kennt, jedoch weiß, dass sie oft im Krankenhaus wegen ihrem Herzschrittmacher verweilt. Man wünscht es auch beliebigen Menschen, die gerade zum Niesen ansetzen. Man kann jedem Gesundheit wünschen.
Und gute Noten ... gute Noten ...
Das Mädchen schloss die Augen und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz.
Ihr Blick richtete sich auf ihr geöffnetes Fenster, das eine angenehm kühle Abendluft in ihr Zimmer wehte; ihr war viel zu warm, Tränen flossen noch immer aus ihren Augen und sie musste sich beruhigen.
Sie stand am Fenster und sah eine Weile hinaus, ohne etwas zu sehen. Dann warf sie den Brief hinaus und sah zu, wie er zu Boden segelte, wie damals die rissigen Bilder des Mosaiks an der Wand. Zerrissene Familienbilder.
,,Ich will meinen Papa.'', flüsterte das Mädchen. ,,Papa hätte den Brief lesen sollen. Ich will meinen Papa ... ich will meinen Papa ...'' Je öfter sie das sagte, desto schwerer fiel es ihr.


Nein. So ein Vater verdient keinen Vatertag.




CU
Sana

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