Freitag, 22. August 2014

♥the summer of a stranger♥

Es ist so weit. Vor circa sechsundzwanzig Stunden bin ich meine Rückreise nach Deutschland angetreten und habe meine Familie für dreieinhalb Monate verlassen.

Es macht mir ehrlich gesagt schon beinahe Angst, dass ich deswegen solche Erleichterung empfinde. Und was mir umso mehr Angst macht, ist, dass ich wahrscheinlich nie wieder so traurig darüber sein werde, wie es mein ganzes Leben lang der Fall gewesen ist. Ich habe für die Ferien dort gelebt, habe meine Zeit zuhause als einen Countdown betrachtet. Zu gut erinnere ich mich daran, wie ich mir die Anzahl der Tage, die mich noch von meiner Familie und den Ferien in Polen trennten, aufs Handgelenk geschrieben habe und ein heftiges Kribbeln in der Magengegend verspürte, wenn ich meine krakelige Schrift auf der Haut betrachtete. Zu gut erinnere ich mich an meine hopsenden Schritte zum Auto, als die Fahrt losgehen sollte und ich meine Eltern antrieb, schneller einzusteigen. Zu gut erinnere ich mich an das breite Grinsen, das mir ins Gesicht gemeißelt gewesen ist, als wir im Wald zwei Dörfer vor dem Haus meiner Großmutter waren und ich wusste, dass mich nicht mal mehr drei Kilometer von den Armen meiner Verwandten trennten.

Schon witzig, wie sich alles im Laufe der Zeit umdreht. Irgendwann kommt eine Weggabelung, die man nicht mal bemerkt, weil man so fasziniert ist von der Landschaft, durch die der Pfad führt und man vollauf damit beschäftigt ist, sie vollkommen in sich aufzusaugen, um sich an jedes Detail erinnern zu können, wenn man zu alt ist, um den Weg weiterlaufen zu können und einem nur noch die Bilder bleiben, die man währenddessen gesammelt hat. Aber indem ich mich so in dem neuen Teil der Landschaft, die ich betreten habe, verloren habe und dabei so viel Freude und Liebe durch meine Adern geflossen ist, habe ich nicht bemerkt, dass meine Familie nicht mehr Teil der Landschaft ist. Nicht ihre Hände halten die meinen, nicht sie bringen mich zum Lachen, nicht sie lassen mich so eine gewaltige Lebendigkeit verspüren, dass ich überwältigt bin von all den Eindrücken und Empfindungen. Sie geben mir nicht die Liebe, die mich befreit ... sie haben mir eine Liebe gegeben, die mich zu einer Gefangenen gemacht hat, denn ich habe die Zuwendung und Liebe nicht bekommen, ohne etwas dafür zu leisten.

Ich hatte Angst vor diesen Ferien, habe das Schlimmste befürchtet, denn ich kenne mich und wusste, dass ich auf viele Dinge anders reagieren und dies nicht gutgehießen werden würde.
Viele dieser Vorahnungen haben sich auch bewahrheitet. 
Das Essen dort schmeckt mir nicht mehr, nicht etwa, weil es zu einfach ist, nein - es ist einfach jeden Tag das gleiche Mahl, das meinen Geschmacksknospen kaum je Abwechslung bietet und meine neuerdings entstandene Abneigung gegenüber Fleisch immer größer werden lässt. Das Haus, welches nur aus Küche, Abstellkammer, Hortekeller, Wohnzimmer, Bad und Kinderzimmer besteht, gibt mir das Gefühl, eingekesselt zu sein von den vielen Menschen, die in diesem Haus wohnen. Nirgends gibt es ein Plätzchen, an dem man einfach nur sitzen und nachdenken, seine Ruhe finden kann. Ständig wird man unterbrochen von Geschrei, Gesang, Pistolenschüssen aus Videospielen, dem lauten Nachmittagsprogramm, das durch die ganze Wohnung dröhnt. Selbst nachts hat man manchmal keine Gelegenheit, seine eigenen Gedanken zu hören, weil sich ein Paar streitet, dass sich nicht mehr liebt, oder weil eine alte Frau aufrecht in ihrem Bett sitzt und Selbstgespräche führt, in denen sie nur die Schattenseiten ihres Lebens Revue passieren lässt und sich nach Nähe sehnt, die ihr kein Bewohner dieses Hauses zuteil werden lässt.
Meine Gefühle schwanken zwischen Mitleid und Empathie gegenüber all diesen Menschen. 
Die kleinen Kinder, denen kaum Aufmerksamkeit zukommt, außer, um sie anzuschreien dafür, dass sie laut und hyperaktiv und kindlich sind, sind wohl die einzigen, die sich mir gegenüber nach wie vor so verhalten wie in den vergangenen Jahren. Nehmen mich an der Hand und stellen mich freudestrahlend ihren Freunden vor, lassen sich durch die Gegend tragen und umherwirbeln, umarmen mich und geben mir überschwänglich Gutenachtküsse, zeigen mir mit Stolz Dinge, die sie in den letzten Monaten vollbracht haben. Eine DIN-A4-Malerei von einer Siebenjährigen zu erhalten, auf der sie ein Herz auf violettem Hintergrund gemalt hat, um jemanden willkommen zu heißen, kann wirklich herzerwärmend sein. Das Geschenk, das Interesse, das Lächeln eines Kindes basiert nämlich grundlegend auf Ehrlichkeit. Kinder sind dazu in der Lage, rein und bedingungslos zu lieben - und bedingungslose Liebe lernt man in dieser Familie nur in sehr geringem Maße kennen.
Denn ansonsten habe ich mich nicht besonders willkommen gefühlt.
Nie wurde ich mit einem freundlichen 'Guten Morgen' oder 'Hast du gut geschlafen?' begrüßt, sondern sofort gefragt, ob ich etwas zu essen möchte oder der Befehl ertönte, dass ich schleunigst aufstehen soll. Die einzige Art von Dingen, die mir während diesen drei Wochen gegeben wurden, waren Nahrungsmittel oder Geld, damit ich mir etwas Schönes kaufen konnte, auch wenn diese Menschen selbst kaum genügend Geld haben, um sich über Wasser zu halten. Gespräche hingegen, die ich mit den erwachsenen Bewohnern dieses Hauses geführt habe, kann ich an einer Hand abzählen, und diese waren auch nicht mehr als seichtes Geplauder gewesen. Wie kann ich mit Menschen auch ein auch nur ansatzweise tiefgründiges Gespräch führen, die mit ihren Altersgenossen einzig und allein über den neuesten Klatsch&Tratsch der am nächsten liegenden Dörfer reden und sich über Leute, die mir allerhöchstens vom Nachnamen bekannt sind, das Maul zerreißen? Aus diesem Grund habe ich keine andere Wahl gehabt, als mich in Schweigen zu verhüllen und stumm neben den Erwachsenen zu sitzen, die sich über Themen unterhalten, die ganz und gar nicht erwachsen sind, und dafür auch noch angefeindet und beleidigt zu werden. Ich trüge meine Nase zu hoch, heißt es. Ich hielte mich für was Besseres, wurde bei Anbruch der Nacht in der Küche gewispert, als ich mich fürs Bett fertigmachte. Ich würde schon noch erwachsen werden, wurde meine Mutter getröstet.
Erwachsen. Wenn Erwachsensein so aussieht, dass man ständig nur aus dem Fenster schaut und Tausende von Geschichten über Personen erfindet, die gerade ins Blickfeld kommen, und dass man seine Kinder dafür anbrüllt, dass sie sich die Langeweile, die kleinen Dörfern nun mal anhaftet, durch lautes Herumtoben vertreiben wollen, so werde ich mir Mühe geben, so lange Kind zu bleiben wie ich kann. Ich bin nicht bereit dazu, das Leben auf ein solches Minimum zu reduzieren.
Ausschließen von 'Gesprächen', beleidigende Kommentare, die mir das Gefühl gaben, ein räudiger Straßenköter zu sein, und Menschen, die mich für arrogant und dumm und kindisch halten. All das habe ich erwartet - trotzdem tut es weh, wenn die eigenen Erwartungen erfüllt werden und einem überhaupt kein Respekt entgegengebracht wird. Wenn man auch noch höhnisch ausgelacht wird, wenn man fragt, warum man nicht respektiert wird, und danach angekeift wird, weil einem Tränen die Wangen runterrinnen.
Was mich jedoch am meisten schockierte, ist die Tatsache, dass ich und meine ehemals beste Freundin so wenige Berührungspunkte gehabt haben. Wie viele Male habe ich sie gesehen? Vier? Fünf? Das ist nichts im Vergleich zu den vorherigen Jahren, in denen wir einander jeden Tag besuchten und stundenlang reden und lachen konnten. Und doch ist jeder Gesprächsversuch diesen Sommer im Nichts versiegt. Selbst eine Begrüßung schien nur schwer über ihre Lippen zu kommen. Unser heiliger Tempel der Freundschaft liegt in Schutt und Asche, und sie ist zu schockiert darüber, als dass sie auch nur ein Wort wispern kann. Oder sie ist zu wütend auf mich und meine Entscheidung, aus diesem Tempel zu flüchten und somit das Todesurteil unserer Freundschaft zu besiegeln. Sei es Wut, sei es Trauer, es sollte mir gleich sein; ich werde nicht in diesen Tempel zurückkehren und versuchen, aus Ascheflocken all die Monumente zu erbauen, die ich niedergerissen habe. Das Grundgerüst war sowieso nie stabiler als diese schwarzen, heißen Glutstücke gewesen. Warum also versuchen, dasselbe nochmals zu bauen? Jeder Versuch würde scheitern. Und so zu tun, als hätte es keine Katastrophe gegeben, dazu bin ich viel zu ehrlich.

Es sind diesen Sommer so viele Dinge geschehen, die auch in den letzten Jahren geschehen sind. Um diese zu sehen, bin ich jedoch zu blind gewesen und habe diese Blindheit der Wahrheit bevorzugt. Ich habe dabei zugesehen, wie drei kleine Kinder nicht beachtet werden, außer, wenn sie laut werden und sich ihrem Alter entsprechend verhalten - in diesem Sommer habe ich zum ersten Mal Kritik geäußert und die Kleinen verteidigt. Ich habe gespannt Gesprächen zugehört, die sich wieder und wieder um Gerüchte drehen und nirgendwohin führen - in diesem Sommer habe ich nicht zuhören wollen (beteiligt habe ich mich nie). Ich habe Zeit mit einem Menschen verbracht, der sich für außergewöhnlich und toll halten will und nach Selbstbestätigung giert wie ein gestrandeter Fisch nach seinem Zuhause - in diesem Sommer habe ich kaum ein Wort mit ihr gewechselt und sie dafür verachtet und zur selben Zeit bemitleidet, dass sie bereits 'erwachsen' wird. Ich habe jeden Tag tausend Gründe zum Glücklichsein gehabt und mich pudelwohl gefühlt - in diesem Sommer habe ich viele Tränen vergossen und spüre meine Verspannungen, die sich während den vielen Tagen angesammelt haben, noch immer überdeutlich.

Ich habe still darum gefleht, dass sich niemals etwas ändern möge - in diesem Sommer hat sich so gut wie alles verändert.

Ich will damit nicht sagen, dass mein Aufenthalt bei meiner Familie reine Zeitverschwendung gewesen ist. Es ist eine gute Zeit gewesen, um Beziehungen zu verbessern oder aber ihnen eine neue Chance zu geben, um Personen von dieser anderen Seite, vor der ich mich innerlich verschlossen habe, kennenzulernen, und vor allem um zu reisen. Diesmal haben ich und meine Eltern wesentlich mehr besucht als nur Strände, die wir schon jahrelang regelmäßig aufsuchen. Diesmal waren wir auch in einem kleinen Park, in dem Häuser und Bunker verschiedener Zeiten ausgestellt waren - sogar eines, das auf dem Kopf stehend gebaut wurde - und wir auch ein wenig die Kultur der Kaschuben kennenlernen konnten. Wir waren auf einem Konzert bis zur Mitternachtsstunde, das einfach nur fantastisch gewesen ist. Wir waren in einem alten Schloss und hörten Geschichten aus der Zeit des Mittelalters, während wir die Festung besichtigten und die Flure entlangschritten und Treppen hinaufstiegen, die einst Rittern und Adeligen ein Zuhause geboten haben. Wir haben so viel Neues entdeckt, und das erst so spät. Ich will noch mehr von der Welt sehen, noch mehr solcher Ausflüge haben, weil ich so viel verpasst habe.

Am letzten Tag habe ich abgeschlossen.
Die letzten Stunden waren fröhlich und erheiternd, Stunden, die sich anfühlten wie früher - aber diesmal war es anders. Diesmal war dieses Glück mit Freiheit verbunden und zu sehen, wie sich meine Mutter und Tante weinend in den Armen liegen, erfüllte mich mit wehmütiger Freude. Ich habe mich von all den Personen verabschiedet ohne zu weinen. Ich habe gelächelt, ihnen gesagt, dass sie auf sich aufpassen sollen, dass ich sie liebhabe - selbst meine ehemals beste Freundin habe ich umarmt und angelächelt, wobei es mich überraschte, dass ihr Gesicht puterrot und ihre Augen voller Tränen waren. Vielleicht hat sie sogar gespürt, dass dies nicht nur ein Abschied für einige Monate gewesen ist, sondern einer, der sich von der Zeit verabschiedet, die mich an diesen Ort nicht nur gebunden, sondern festgekettet hat. Dieser Abschied gilt der Zeit, in der mich nur dieser Ort glücklich machen konnte.

Jetzt kommt eine neue Zeit.

CU
Sana

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