Mittwoch, 10. Oktober 2018

♥Litlabern #3♥: 5 Dinge, die ,,Tote Mädchen lügen nicht'' uns lehrt


,,Solltest du mich für eine Idiotin halten, für ein dummes kleines Mädchen, das sich über jede Lappalie aufregt und alles viel zu ernst nimmt, dann brauchst du ja nicht zuzuhören.'' - S. 41

Kaum eine Serie hat im vergangenen und diesem Jahr so polarisiert wie Thirteen Reasons Why alias Tote Mädchen lügen nicht. Von hellauf begeisterten Kritiken über das Ansprechen des schweren Themas Selbstmord bis hin zu Beschwerden über eine vollkommen falsche Darstellung davon und dem Propagieren falscher Werte, zeigt sich ein breites Spektrum von Meinungen um die kontroverse Verfilmung. Um diese soll es jedoch nicht gehen, da sie vor allem vom Storytelling her große Probleme hat und im Vergleich zum Buch einen anderen Fokus hat, einen Fokus, der im Buch nur kurz angeschnitten wird und für die Geschichte an sich komplett unnötig ist. Daher soll dieser Beitrag von etwas Anderem handeln, einem Thema, das bezüglich der Rezeption der Geschichte viel wichtiger ist: Nämlich was uns Tote Mädchen lügen nicht beibringt, sowohl von ihrer Geschichte her als auch von unserer Reaktion darauf.



Quelle: © cbt Verlag

Es geht primär um Clay Jensen, der vor seiner Haustür ein Paket mit sieben Kassetten vorfindet, die Seiten jeweils mit den Zahlen 1 bis 13 beschriftet. Als er beginnt, sie anzuhören, hört er Hannah Baker, eine Mitschülerin und sein heimlicher Schwarm, der sich vor zwei Wochen das Leben genommen hat. Auf diesen Kassetten erklärt sie ihre insgesamt dreizehn Gründe dazu, die stets mit bestimmten Personen verknüpft sind, die nun nacheinander ihre letzte Botschaft bekommen.

Ein sehr wichtiges Thema, dem Jay Asher sich auf eine etwas andere Weise angenommen hat als man es im Normalfall erwarten würde. Denn wenn jemand Suizid begeht, bleiben meistens viele Fragen offen. Wie konnte man das übersehen? Warum ausgerechnet diese Person? Und die dringlichste: Warum hat sie sich das Leben genommen? Hannah beantwortet diese Fragen, vollkommen aus der Subjektive und bringt diejenigen, die damit zu tun hatten dazu, ihr zuzuhören. Ansonsten würde eine Kopie der Kassetten ans Tageslicht kommen und die Mitschuld der anderen an ihrem Tod für alle öffentlich machen.
Aber Moment, handelt es sich dabei nicht um Erpressung? Das ist einer der Hauptkritikpunkte, die diejenigen, die Buch oder Serie hassen, nutzen, um zu begründen, weshalb diese Geschichte gefährlich ist. Sie behaupten, Hannah würde sich als grausame Richterin inszenieren, die ihre Entscheidung, an einer Überdosis Pillen zu sterben, auf andere abwälzt und sich selbst als unschuldiges Opfer inszeniert. Darüber hinaus nehmen sich viele der negativen Meinungen heraus, Hannahs Gründe für ihren Selbstmord als lächerlich abzustempeln und die Komponente der psychischen Krankheit der Depression, die häufig zu Suizid führt, als zu nebensächlich behandelt darzustellen.
Und dabei die grundlegende Message meistens übersehen oder so falsch verstanden, wie es auch einige Figuren in dem Buch tun. 
Was das sein soll und was diese Geschichte uns sonst noch lehrt, das erfahrt ihr jetzt.

Diese 5 Dinge könnt ihr aus Tote Mädchen lügen nicht mitnehmen:

1. Wir sind alle miteinander verbunden.

Egal ob man als Kleinkind miterlebt, wie der Vater die eigene Mutter schlägt, ob man als Kindergartenkind unbedingt zu einer Gruppe will und dazu Mutproben bestehen muss, oder ob man ein Junge oder Mädchen im Teenager-Alter ist und die Freunde zur zweiten Familie werden - das soziale Umfeld spielt eine entscheidende Rolle darin, wie wir uns entwickeln.
In diesem Buch und auch auf Hannahs Kassetten ist das eine stinknormale Highschool, die, obwohl sie aus den unterschiedlichsten Persönlichkeiten besteht, eine ungeschriebene Regel besitzt: Fall nicht negativ auf. Denn das könnte deinen Ruf sehr verändern.
Nicht nur Hannahs Entscheidungen - auch außerhalb ihres Selbstmordes - werden davon besonders beeinflusst, sondern auch Clays und auch die der anderen Figuren.

Hannah beispielsweise startet optimistisch an ihrer neuen Schule durch und hat mit einem Jungen namens Justin - Kassette Nr. 1 - ihren ersten Kuss. Doch da sie neu an der Schule ist, aufregend, noch vollkommen unbekannt, wird Justin von seinen Freunden gelöchert, was er mit dem hübschen neuen Mädchen angestellt hat. Und wie so viele Jungs in seinem Alter prahlt er mit Ereignissen rum, die höchstens in seinem Kopf passiert sind. Das soziale Umfeld hat ihn beeinflusst, womit er Hannah ohne es zu wollen den Ruf eines leichten Mädchens eingebracht hat. Und das wiederum hatte eine Wechselwirkung darauf, wie sich Hannahs Mitmenschen ihr gegenüber verhalten. Wiederholt sieht man, wie Hannah aufgrund ihres Rufes sexuell belästigt wird, ihr Freundschaften mit Mädchen aufgekündigt werden, weil sie Angst haben, sie würde ihren Freund verführen und wie weitere Komponenten sie isolieren. Und das aus einer ursprünglich so kleinen Sache.
Auch Clay wird Opfer dieser Wechselwirkungen, da er als sehr ruhiger Typ einen komplett konträren Ruf zu Hannah hat, den sie hätte in Gefahr bringen können. So verleugnet er für lange Zeit seine Gefühle ihr gegenüber und nimmt nur zu ihr Kontakt auf, wenn sie sich nicht in der Schule befinden. Das sind keine Entscheidungen, die er bewusst trifft, sondern die ihm erst klarwerden, als er die Kassetten hört. Es sind unbewusste Gedanken, die ihm aufkommen, als er Justin und andere Jungs über ihre angeblichen Abenteuer mit Hannah reden hört, als er Courtney darüber sprechen hört, was für Überraschungen Hannah angeblich in ihrer Nachtkommode hätte. Und genau diese Schwäche hat dafür gesorgt, dass er sich in eine Ecke gedrängt hat, in der er gar nicht sein möchte, eine, die von Hannah sehr weit entfernt ist. 

Und genau solche Kettenreaktionen geschehen jeden Tag in unserem Alltag, und das ohne dass wir es merken oder uns großartig Gedanken darüber machen, weshalb Personen sich so verhalten, wie sie es tun; Clay ist dafür das Paradebeispiel. Dann erweckt die- oder derjenige eben den Eindruck eines immer schlecht gelaunten Mitschülers. Dann haben wir eben gehört, dass sich Person X durch die Gegend schläft. Dann ist der eine Junge ganz hinten in der Klasse eben sehr introvertiert und sagt nie ein Wort, so ist er halt. Warum sollte irgendeine Aussage von mir irgendwas daran ändern? Warum sollte ich mir eine eigene Meinung zu der Person bilden, wenn ihr Verhalten und die Mehrheit diese Gerüchte und Eindrücke unterstützen?
,,Ihr alle wisst nur, wie euer eigenes Leben aussieht. Aber wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann betrifft das nicht nur einen bestimmten Aspekt dieses Lebens. Als würde alles andere davon unberührt bleiben. Wenn ihr euch in das Leben einer anderen Person einmischt, dann berührt das ihre gesamte Existenz. Alles ... beeinflusst alles.'' - S. 199

2. Du wirkst mit, egal was du tust oder auch nicht tust.

Aus dem vorherigen Punkt schließt man also, dass jeder im persönlichem Umfeld an unserer Entwicklung mitwirkt. Viele negative Stimmen zu Thirteen Reasons Why stellen dies als Kalenderweisheit dar, etwas, das gar keine Botschaft sein sollte, weil sie so offensichtlich ist. Schließlich genießen wir alle irgendeine Art von Erziehung und kennen freundliche Umgangsformen und soziale Normen. Und schließlich ist man nicht derjenige, der Hannah die Pillen persönlich in die Hand gedrückt hat, warum also soll sie anderen die Schuld daran geben?
Dieser Standpunkt ist verständlich, wenn man nur das Individuum für sich betrachtet. Wir haben alle die Möglichkeit, freie Entscheidungen zu treffen, so auch, wie sehr wir uns von Schicksalsschlägen berühren lassen. Das kann man nach der soziologischen Theorie der sogenannten Resilienz  [eine aufgebaute psychische Widerstandsfähigkeit bei externen Störungen] sogar erlernen, wenn auch die Grundvoraussetzungen bei jeder Person dafür anders sind und es nicht so leicht ist zu beschreiben, welche Faktoren wir dazu brauchen. Natürlich hätte Hannah sich gegen den Selbstmord entscheiden können. Jeder kann das. Doch auch wenn es bei Resilienz um die eigene psychische Stärke geht und man selbst Mechanismen aufbaut, mit denen sie wächst - der Aspekt des sozialen Umfelds ist nicht zu unterschätzen. So stereotypisch es sich anhört, manchmal kann eine einzige feste Bezugsperson einem die Kraft geben, etwas zu ändern.

Hannah hat immer wieder nach Menschen in ihrem Umfeld die Hand ausgestreckt. Sei es Courtney, die ihr in einer sehr unangenehmen Situation geholfen hat, nur um sie danach fallen zu lassen, Ryan, dem Hannah ihre sehr persönlichen Gedichte vorgetragen hat, nur damit er diese gegen ihren Willen in der Schülerzeitung allen öffentlich preisgibt, oder Clay, der aufgrund der Gerüchte um sie nicht den Mut dazu hatte, ihr wirklich nahe zu kommen. Zusätzlich mit ihren Eltern, die dauerhaft mit ihrer Arbeit beschäftigt sind und es nicht mal merken, als Hannah ihr Aussehen radikal verändert, gehen Hannah nach und nach die Möglichkeiten aus, diese feste Bezugsperson zu finden. Statt positivem Feedback und Verstärkung trifft sie nur auf Ablehnung oder Spott, häufig eben in der Form von Slut-Shaming und sexueller Belästigung.
,,Auf dieser Kassette geht es nicht darum, warum du dich so verhalten hast. Es geht um die Auswirkungen deines Verhaltens. Genauer gesagt, die Auswirkungen auf mein Leben. Es geht um Dinge, die du so nicht geplant hattest. Die du nicht planen konntest.'' - S. 45
Und man kann über die Gründe dieser Personen vielfach diskutieren, soll es als Rezeptionist dieser Geschichte sogar. Denn das, was die meisten Leser missverstehen, ist, dass Hannah nicht uns als Leser dazu auffordert, ihre Auslöser zu Antagonisten zu degradieren und als Monster zu betrachten. Viele Gründe der genannten Personen auf ihrer Liste sind sogar zutiefst menschlich, beispielsweise Clays Unsicherheit gegenüber einem Mädchen, das er für erfahrener hält als sich selbst, oder Zacks Gefühl der Blamage und Zurückweisung, das ihn zu seinem Handeln treibt. Wie Hannah in den vorherigen Zitaten durchklingen lässt, viele sind sich nicht mal dessen bewusst, was sie tun oder wie sich das auswirken könnte. Auch sich selbst stellt sie nicht als Unschuldslamm dar, wie viele es von ihr als Erzählerin behaupten.
,,In den bisherigen Geschichten habe ich immer wieder betont, dass an den Gerüchten, die über mich im Umlauf sind, nichts dran ist. Das stimmt auch. Aber ich habe auch nie behauptet, dass ich die Tugendhaftigkeit in Person bin.'' - S. 81f.
Sie ist keine Scharfrichterin, die sich nun an ihren Peinigern rächen will. Wie denn auch, schließlich würde sie die Auswirkungen ihrer Rache als Tote nicht mal mitbekommen. Im Gegenteil, ihre Kassetten, die sie, wie sie selbst darauf sagt, als eine Art Selbsttherapie begonnen hat, haben sie dazu gebracht, über ihre Situation zu reflektieren und zu erkennen, dass es nichts bringen würde, Personen etwas heimzuzahlen, die überwiegend ihre Handlungen einfach unterschätzt haben.
,,Schließlich bin ich doch hier, um mich an ihm zu rächen, oder? Ich dachte, das würde mir Freude bereiten, eine gewisse Genugtuung verschaffen. Aber hier draußen vor seinem Fenster zu stehen, befriedigt mich kein bisschen.'' - S. 85
Es ist kein Anprangern von Gut und Böse, kein ,,Du bist Schuld an meinem Selbstmord'', sondern ein kollektives Versagen des sozialen Miteinanders. Wie es schon der Philosoph Martin Buber sagte: ,,Der Mensch wird durch das Du zum Ich.'' - und wenn Hannahs Du ihr ausschließlich negativ gegenübersteht, wie kann sie dann sich selbst gegenüber positiv sein und die Kraft aufzubauen, über gewisse Dinge hinwegzukommen?
Der Mensch ist ein Individuum, ja. Aber er ist auch ein soziales Wesen, das von anderen abhängig ist.
Das bedeutet keinesfalls, dass wir immer auf Eierschalen um andere Personen herumlaufen müssen. Dass wir immer das Schlimmste befürchten müssen. Hannah - und so auch der Autor - möchte uns lediglich mitteilen, dass wir immer einen Einfluss auf andere haben, selbst wenn wir ihn gar nicht ausüben wollen, und genau dies in unseren Alltag mit einzubinden. Schließlich fasst jede Person dein Verhalten anders auf, und selbst wenn du sie nicht kennst und einschätzen kannst, was das bei ihr bewirkt - genau deswegen solltest du darauf achten, niemanden schlecht zu behandeln. Denn:


3. Jeder hat seine eigene Schmerzgrenze.

Was den einen verletzt, kann dem anderen getrost am Arsch vorbeigehen. Was für den einen ein schlechter Scherz ist, kann für den anderen die Blamage schlechthin sein. Was für den einen keine große Sache ist, kann für den anderen eine Katastrophe darstellen. Und egal wie empfindlich jemand ist, absolut niemand hat das Recht die eigene Schmerzgrenze als lächerlich zu bewerten. Denn hier tappen einige Leser in dieselbe Falle wie diejenigen, denen Hannah die Auswirkungen ihres Verhaltens zeigen möchte: Sie tun ihre Gründe als ,,nicht genug'' ab, um sich umzubringen.
Für sich genommen sind es kleine Ereignisse, mit denen Hannah zu kämpfen hat. Dinge, die jedem passieren können und genau deswegen ihre Geschichte so leicht für den Leser zugänglich machen. Aber hat man deswegen das Recht zu sagen, dass es keine guten Gründe wären, sich das Leben zu nehmen? Newsflash: Kein Grund ist gut genug dazu und niemand sollte so tief sinken, dass er daran denkt, sich umzubringen. Und genau das zeigt Hannah auf: Es gibt keine eindeutigen Gründe, niemand bringt sich aufgrund eines ersten Kusses oder einem aufdringlichen Typen um. Doch zusammengenommen verschwimmen all diese kleinen Ereignisse zu etwas Großem, Undurchdringbarem, das für sie unbezwingbar und unaufhaltsam zu sein scheint und von Katalysatoren - wie Justin, Jessica oder Bryce - noch vergrößert wird. Sie hat ihre einzelnen Stationen ermittelt - dreizehn Stationen -, aber das große Ganze kann sie genauso wenig erfassen wie Clay oder der Leser. Doch trotzdem versucht sie, ihm und uns mitzuteilen, was geschehen ist, und möchte uns damit helfen, sie zu verstehen. Denn letztlich geht es nicht darum, ihr Handeln oder die Gründe an sich zu beurteilen, sondern darum, unsere Mitmenschen zu respektieren und von sich nicht zu sehr auf andere zu schließen. Denn wie in den vorherigen Punkten der Autor schon anspricht: Wir wissen nur über unser eigenes Leben Bescheid, nicht das von anderen.
,,Und je näher wir dem Ende kommen, desto mehr Zusammenhänge fallen mir auf. Tiefe Zusammenhänge. Manche, von denen ich erzählt habe, verbinden die einzelnen Geschichten miteinander. Von anderen habe ich euch noch gar nicht erzählt.'' - S. 176f.

4. Setze dich mit Selbstmord auseinander, aber verurteile ihn nicht.

Dieser Punkt mag widersprüchlich zum Originaltitel des Buches sein, allerdings zeigt Hannah anhand ihrer Kassetten, den Reaktionen ihrer Empfänger und auch vielen Reaktionen der Leser, dass viele Leute doch Gründe für Selbstmord geliefert bekommen haben wollen. Sie wollen sie haben, um sie mit ihrer eigenen Schmerzgrenze abzugleichen und zu beurteilen, ob diese Gründe genug sind, wie schon in Punkt 3 angesprochen. Jay Asher zeigt in einer essentiellen Szene, in der Hannah anonym nach Hilfe fragt, dass nicht nur die Individualität dieses Themas ein Problem darstellt, sondern das eigentliche Thema an sich.
,,Doch alles, was sie sagten - absolut alles - zeigte einen gewissen Willen, sich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen. Dann sprach ein Mädchen das aus, was alle dachten: ,Mir scheint, dass die Person sich nur wichtig machen will. Wenn sie es ernst meinte, dann würde sie auch ihren Namen sagen.' [...] Wir haben über Abtreibung, Gewalt in der Familie und Aufrichtigkeit in Beziehungen gesprochen. Keiner hat sich je darum gekümmert, von wem der Vorschlag gekommen war. Doch anscheinend hatte niemand Lust, ohne konkreten Anlass über Selbstmord zu diskutieren.'' - S. 170
Das Buch stammt von vor 2010, und in der heutigen Zeit von #metoo und Diversity wird glücklicherweise mehr über das Thema diskutiert. Doch damals wie heute braucht es oft einen Grund dazu, damit die Leute sich damit beschäftigen, was eine komplett falsche Herangehensweise daran ist. Man sollte nicht erst dann darüber diskutieren, wenn es für einen Menschen bereits zu spät ist, sondern Plattformen für diejenigen bieten, die darüber nachdenken, und das ohne die konkreten Gründe dafür zu verurteilen. Man sollte nicht sagen, dass explizit von einer psychischen Erkrankung wie Depression die Rede sein muss, damit ein Mensch suizidgefährdet ist, sondern die kleinen Anzeichen davon sehen, die Asher in diesem Buch, entgegen aller Vorwürfe das nicht zu tun, verstreut. Man sollte nicht denken, dass man als Mensch mit traumatischen Erfahrungen und einem durchgängig schlechten Leben mehr Recht dazu hat über Selbstmord zu grübeln als andere Menschen, und sich gleichzeitig darüber aufzuregen, dass viele Leute Suizid nicht ernstnehmen.  Man sollte sich vor Augen führen, dass diese Zweigleisigkeit - konkrete Gründe geliefert als lächerlich abzutun und sich gleichzeitig zu zieren, sich damit zu befassen, wenn es keine gibt - mehr als nur doppelmoralisch ist. 

Hannah bewirkt durch ihre Kassetten, dass man sich mit dem Thema gezwungenermaßen auseinandersetzt, sowohl die Personen, die unbewusst daran mitgewirkt haben, als auch die Leserschaft, und führt einem im besten Fall die eigene Ignoranz vor Augen. Viele denken aber scheinbar über diesen Punkt nicht hinaus und schreiben, auch als Betroffene dieser Thematik, dass diese Geschichte nicht realistisch sei, schlicht und ergreifend, weil sie nicht ihre eigene ist. Doch das ist nicht nur gegenüber Hannah unfair, sondern auch allen anderen Personen, die mit Selbstmord zu tun haben. Denn wie es in dem Zitat schon heißt, häufig werden diese Gedanken nicht mal ernst genommen und als zu übertrieben aufgefasst.
Jay Asher möchte mit dieser Geschichte und dieser Art sie zu erzählen einen Gegenpol dazu schaffen. Einen Gegenpol, der sensibel mit dem Thema und seinen Betroffenen umgeht und die Auswirkungen des sozialen Miteinanders zu verstehen und dementsprechend zu handeln.


5. Schau hin.

Und das zeigt der Autor an seiner zweiten Hauptfigur Clay.
Clay ist ein schüchterner Junge, der vielen weder positiv noch negativ auffällt, in seiner Persönlichkeit an sich auch nicht sonderlich interessant ist. Doch genau das ist das Ziel des Autors, damit der Leser sich selbst auf seine Rolle projizieren kann. In der Rolle von Hannahs Zuhörer dient er als Paradebeispiel all dieser Lektionen, die Tote Mädchen lügen nicht uns beibringt: Er fällt auf die Gerüchteküche rein und traut sich nicht hinter die Fassade eines Menschen zu schauen, weil es bequemer ist, die Meinung anderer anzunehmen. Er reagiert abwehrend darauf, dass er als Zuhörer einer von Hannahs Katalysatoren gewesen sein soll, und versucht ihre Gründe runterzuspielen, so wie viele andere auf den Kassetten auch. Doch als er schließlich zu seinem Abschnitt der Geschichte kommt, in dem Hannah am deutlichsten zeigt, dass es ihr nicht darum geht, Schuldige an den Pranger zu stellen, sondern zu erklären, wie man in Wechselwirkung die Leben vieler beeinflusst, fällt bei ihm der Groschen, und er tut das, was jeder Angehörige von Betroffenen tun sollte: Zuhören und nicht zu urteilen. 
,,Ich hatte keine Ahnung, [...] wie sie eigentlich war. Stattdessen habe ich dem Gerede der anderen geglaubt. Außerdem hatte ich Angst, was über mich geredet würde, wenn bekannt wurde, dass ich sie mochte.'' - S. 280
Während er ihr zuhört, lässt er die essentiellen Geschehnisse aus seiner Sicht Revue passieren und erweitert sie um Hannahs Sichtweise, lernt zu verstehen, wo ihre Schmerzgrenzen sich unterscheiden und dies an ihr zu respektieren. Es sogar als eine Art letzte Ehre für sie anzusehen, ihr zuzuhören, wenn das schon bei ihrem Lebtag niemand getan hat.
Doch es bleibt nicht nur bei dieser passiven Entwicklung Clays. Im Laufe des Abends, wo er mit den Kassetten durch die Stadt läuft und Hannahs Worten lauscht, trifft er auf Skye, eine Außenseiterin, die früher total beliebt war, sich jedoch von einem Tag auf den anderen von der Gesellschaft losgesagt hat. Sie spricht kaum mit ihm und gibt ihm ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Doch Clay tut dort das, was er auch bei Hannah getan hat: Er nimmt die Veränderungen wahr, schaut aber fort. Sobald er allerdings ihre Geschichte zu Ende gehört hat, merkt, dass es Möglichkeiten gegeben hätte, sie zu retten, wenn er, andere oder auch sie selbst dies zugelassen hätten, verändert sich etwas in ihm.
Er trifft ein zweites Mal auf Skye, und Jay Asher beendet sein Buch mit einem sehr hoffnungsvollen Ende, das den Leser motiviert, wie Clay zu handeln und aus seiner passiven Rolle des teilnahmslosen Beobachters auszubrechen:


,,[...] Ich wollte mit ihr reden, habe es zumindest versucht, aber irgendwie ist das Gespräch nicht richtig in Gang gekommen. Im Laufe der Jahre hat sie gelernt, sich die Leute auf Distanz zu halten. Alle. [...] Ich würde gerne etwas sagen, vielleicht ihren Namen rufen, doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Einerseits will ich es ignorieren. Will so tun, als sei ich bis zum Beginn der zweiten Stunde sehr beschäftigt. Doch sie geht denselben Flur hinunter, auf dem ich Hannah vor zwei Wochen verschwinden sah. Damals ist Hannah einfach in der Menge untergetaucht und hat es vorgezogen, sich auf den Kassetten zu verabschieden. Doch Skyes Schritte sind noch zu hören, obwohl das Geräusch immer leiser wird. Ich hefte mich an ihre Fersen. [...] Eine Flut von Emotionen stürzt auf mich ein. Schmerz und Wut. Trauer und Mitleid. Und was ich nicht erwartet hätte: Hoffnung. Ich gehe weiter. [...] Und je näher ich ihr komme, je schneller ich gehe, desto unbeschwerter fühle ich mich. Meine Kehle entspannt sich. Zwei Schritte hinter ihr sage ich ihren Namen. ,Skye!''' - S. 282f.

Man sieht nicht, wie sich Clays Handeln auf Skye auswirkt. Man erfährt nicht, was ihr zugestoßen ist und was ihr Grund ist, sich zurückzuziehen. Doch das ist vollkommen egal, denn Clay hat genau das geschafft, was Jay Asher seinem Leser mit auf den Weg geben möchte: Er möchte jemanden verstehen und ihm, ohne ihn zu beurteilen, helfen, den Einfluss, den er hat, positiv nutzen, um vielleicht einer anderen Person den Halt geben zu können, den eine andere Person in seinem Umfeld nicht gefunden hat.
Und wie könnte man eine so tragische und traurige Geschichte schöner enden lassen als mit dieser Botschaft?


Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Beitrag zum Nachdenken anregen und vielleicht einige, die dieses Buch missverstanden haben, ein wenig über meine Sichtweise dazu aufklären. Denn ich fände es sehr schade, wenn ein derart wichtiges und gutes Buch wegen dem, was der Autor kritisiert und man selbst als Leser vielleicht gar nicht merkt, so gebasht oder vielleicht sogar als gefährlich abgestuft wird.
Was ist eure Meinung zu diesem Buch? Habt ihr es schon gelesen? Und findet ihr die Serie genauso problematisch wie ich? Und vor allem: Könnt ihr diese fünf Dinge ebenfalls in diesem Buch vorfinden?

CU
Sana

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