Samstag, 15. Dezember 2018

♥Litlabern #4♥: Das außergewöhnlich Besondere an ,,Alice im Wunderland''

''But I don't want to go among mad people.''
''Oh, you can't help that. We're all mad here. I'm mad. You're mad.''
''How do you know I'm mad?''
''You must be or you wouldn't have come here.'' 



Wer kennt die Geschichte von Alice und ihrem Fall ins Wunderland nicht? Das weiße Kaninchen, das fürchtet zu spät zu kommen, den Verrückten Hutmacher, der die Zeit beleidigt hat und die Herzkönigin, die man auch gerne mit der Roten Königin verwechselt?

Mit achtunddreißig Verfilmungen, einigen Bühnenaufführungen, auf den Büchern basierenden Videospielen wie Alice: Madness Returns oder modernen literarischen Neuinterpretationen wie Alice (Christine Henry) oder Alice im Zombieland (Gena Showalter) gehört diese Geschichte aus der Epoche des Nonsense zu den bekanntesten der Geschichte. 

Obwohl es genau das ist: Nonsense. Lewis Carrolls Alice-Romane - Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln - entstanden ursprünglich als Geschichte für die Liddell-Geschwister, besonders Alice, die sein Favorit unter den Mädchen war und die zur Namensträgerin seiner Protagonistin wurde. Er dachte sie sich als Zeitvertreib aus, und obwohl er Mathematiker war, hatte nichts in diesen Geschichten Hand und Fuß oder so was wie eine stringente Handlung. Trotzdem wurde es im Jahre 1865 die erste Geschichte veröffentlicht und sechs Jahre später die Fortsetzung, und noch heute wirkt dieser Klassiker weiterhin in unsere heutige Kultur hinein. Egal ob in einer Science-Fiction-Serie wie West World, in den Comic-Welten von Batman oder selbst in japanischen Animes/Anime-Filmen wie in Chihiros Reise ins Zauberland lassen sich Dutzende Referenzen finden, die selbst diejenigen erkennen, die das Original nie gelesen haben.

Doch warum das Ganze? Was haben Alice' Abenteuer an sich, dass wir sie nach wie vor verschlingen und in so viele andere Werke verflechten, die augenscheinlich nichts mit den Ursprungswerken zu tun haben?

1. Zeit und Raum spielen keine Rolle



''Would you tell me, please, which way I ought to go from here?''''That depends a good deal on where you want to get to.''''I don't much care where ...''''Then it doesn't matter which way you go.''''... so long as I get somewhere.'' - p. 60

Einzig durch die Sprache und durch einige sehr gut versteckte Referenzen auf das viktorianische Zeitalter kann man feststellen, dass Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln in etwa dieser Zeit spielt. Es gibt sehr kurze Passagen der Exposition in beiden Geschichten, in denen man Alice in der normalen Welt erlebt, ein stinknormales, zunächst siebenjähriges Mädchen, das sich langweilt und vor sich hin fantasiert. Doch beide Male hat es keinerlei Bedeutung für die Geschichte, wie ihr Alltag aussieht oder wie sie als Figur ist, denn innerhalb weniger Seiten taucht sie in Welten ab, die uns völlig unbekannt sind.

Das Wunderland ist ein wildes Durcheinander, in dem keinerlei Gesetzmäßigkeiten herrschen. Man sollte gar nicht erst versuchen, ein World-Building darin zu erkennen, sonst platzt einem vermutlich der Schädel. Man weiß kleine Eckpunkte, zum Beispiel, dass es eine Herzkönigin gibt, die liebend gerne Menschen den Kopf abschlägt, und man weiß, dass ein Großteil des Wunderlands aus Wald besteht. Alles andere jedoch ist Zufall und Verwirrung, denn normalerweise müsste man meinen, dass man eine Umgebung immer besser kennenlernt, je mehr Menschen man in dieser Welt trifft. Alice und der Leser werden jedoch immer verwirrter, verwunderter und zum Teil auch verärgerter. Man kann fast alle Kapitel beliebig hin und her schieben, und man würde wahrscheinlich zum gleichen Ergebnis kommen und genauso schlau sein wie vorher. Egal ob es sich um die Teeparty handelt, die ewig andauert, ob es die Grinsekatze ist, die einem nicht den Weg weisen kann, oder die Soldaten der Königin, die Rosen rot anmalen - nichts davon hat eine Relevanz oder ensteht aus etwas zuvor Geschehenem.
Das Land hinter den Spiegeln scheint schon etwas mehr Struktur zu besitzen, allerdings ist selbst das nur eine optische Täuschung durch das Schachbrett, aus dem diese Landschaft entsprießt. Alice hat diesmal ein klares Ziel - sie möchte das Brett überqueren und so vom Bauern zur Königin aufsteigen -, doch abgesehen davon folgt der Plot ebenso keiner klaren Linie wie der Vorgänger. Keiner der Bewohner, die ihr begegnen, sind ihr eine große Hilfe, und doch gelangt sie am Ende ans Ziel, ohne dass es eine Veränderung, einen Sinn in ihr hervorrufen würde.

Doch wahrscheinlich fasziniert uns genau das: Es ist so abseits jeglicher Normalität, dass man gar nicht anders kann als davon fasziniert zu sein und an Alice' Seite das Wunderland und das Land hinter den Spiegeln kennenzulernen. Es sind Welten, die wir uns nicht mal vorstellen können, ohne nach dem Warum und Weshalb zu fragen. Es sind keine Landschaften, die den Leser faszinieren, keine politischen Intrigen oder der Aufbau dieser Welt, sondern die komplette Abgedrehtheit und das Nicht-Vorhanden-Sein dieser. Wie kann es so etwas geben, das so viele verrückte Persönlichkeiten beherbergt und physischen, chemischen, ja magischen Systemen keinerlei Bedeutung beimisst?

Kein Wunder also, dass der Stoff vielfach versucht wurde in Theater und Film umzusetzen und dabei immer wieder gescheitert ist. Denn diese Welten sind zu fantastisch und zu sehr über allem, was wir begreifen können, als dass man es aus den Buchdeckeln hinaus in unsere Welt befördern könnte.


2. Identifikation und Projektion

''[B]ut I'm grown up now. At least there's no room to grow up anymore here. But then shall I never get any older than I am now? That'll be a comfort, one way - never to be an old woman - but then - always to have lessons to learn. Oh, I shouldn't like that!'' - p. 35

Genauso wie wir nichts über das Wunderland und das Land hinter den Spiegeln wissen, wissen wir auch nichts über die Protagonistin. Einige Leser finden Alice sogar recht nervig, da sie sich mit ihren sieben Jahren für allwissend hält und ihren Begleitern gegenüber oft sehr unhöflich ist. Allgemein leidet das Mädchen genauso häufig unter Stimmungsschwankungen wie sie im ersten Teil schrumpft und wächst.
Aber wisst ihr was? Durch diesen unausgebauten Charakter hat man umso mehr Chancen, sich mit ihr zu identifizieren, denn wer würde nicht das Gefühl haben, verrückt zu werden, wenn er im Wunderland oder Land hinter den Spiegeln wäre? Ganz alleine, ohne seine Eltern, seine große Schwester oder seine kleine, loyale Katze? Wer wäre nicht verängstigt, begeistert und genervt zugleich? Deswegen ist es sehr einfach, sich mit ihr auf diese Reise zu begeben, und hätte man Alice nicht, so würde man wahrscheinlich gar keinen Zugang zu diesen Welten finden. 

Besonders Alice' Gedankengänge sind, vor allem wenn man beachtet, dass sie ein Kind ist, ziemlich nachvollziehbar und deuten darauf hin, wie verloren sie sich fühlt. Und jeder der Leser fühlt sich zu bestimmten Zeitpunkten seines Lebens verloren, und kann sich deswegen ohne große Schwierigkeiten nicht nur mit ihr identifizieren, sondern auch sich selbst auf sie projizieren. Manch einer mag sich bei ihren Wachstumsschüben und Schrumpfungen an seine eigene Kindheit erinnert fühlen, in der man eine seiner geliebten Playmobil-Figuren in die Hand nimmt und merkt, dass sich die Finger vollständig um das Spielzeug schließen lassen. Dass das Kuscheltier einem nur noch bis zum Knie reicht und nicht zur Hüfte. Und wie merkwürdig man sich fühlt, wenn man die Veränderungen an seinem Körper bemerkt. Ist man dadurch selbst eine andere Person geworden? Ist man erwachsen? Möchte man das überhaupt?

Während sich Alice im Wunderland anfühlt wie das Entdecken und die Verzweiflung über diese Veränderungen, scheint Alice hinter den Spiegeln gemäßigter und fokussiert sich eher darauf, dass Alice ihren festgelegten Weg findet. Im Wunderland ist sie kopflos und es kümmert sie nicht, wo sie ankommt, im Land hinter den Spiegeln hingegen ist sie fest entschlossen, sich neben der Weißen und der Roten Königin auf dem Thron einzureihen. Sie verändert sich und scheint mit diesen Veränderungen im Laufe ihrer Abenteuer besser zurechtzukommen, und das obwohl das Chaos immer ein Teil ihres Lebens sein wird. Wer seinen eigenen Lebensweg und das Finden von diesem auf diese für Kinder geschriebene Geschichten projiziert, der wird sich vielleicht sogar durch die Höhen und Tiefen von Alice gestärkt fühlen und in jedem Fall besser mit der Nicht-Struktur und Nicht-Geschichte des Ganzen zurechtkommen.

Doch es gibt natürlich auch noch andere Interpretationen, die mit Kontroversen einhergehen und mit denen sich zum Teil in den Adaptionen dieser Geschichte beschäftigt wird. ,,Alice konsumiert Drogen und ist auf einem Trip'', ,,Alice traut sich, Missstände zu hinterfragen und äußert damit Sozialsatire'', ,,Alice ist geisteskrank'' - all das sind Ansätze, die wir in dieses Mädchen hineininterpretieren und sie deswegen fast in all diesen Ideen zur Galeonsfigur für etwas Bestimmtes machen können. Tim Burton in seinem Alice im Wunderland stellt sie als Auserwählte dar, die bereits als Kind im Wunderland gewesen ist und nun das Land vor dem Jabberwocky retten soll. American McGee inszeniert ihr Wunderland als ihre psychische Gesundheit, die sie in blutigem Gemetzel von Alice: Madness Returns vor dem infernalischen Zug retten muss, um auch sich selbst retten zu können. Christina Henry zeigt Alice ebenso als Auserwählte, jedoch auch als Überlebende einer Vergewaltigung, die sich für die Befreiung unterdrückter und sexuell ausgebeuteter Frauen einsetzt.
So viele Möglichkeiten, was sie sein und werden könnte, und genau das macht sie zu einer der unvergesslichsten, kaum ausgearbeitetsten Figuren der Literaturgeschichte.


3. Die Unmöglichkeit der Sinnlosigkeit



''You may call it 'nonsense' if you like [...] but I've heard nonsense, compared with which that would be as sensible as a dictionary!'' - Red Queen (p. 152)

Doch wenn es so viele Möglichkeiten gibt, diese Geschichte zu verstehen, und Lewis Carroll als Mathematiker eine solche Intelligenzbestie war - dann muss einem diese Geschichte doch irgendwas geben. Irgendeine Botschaft, die so grandios versteckt ist, dass man sich fühlen muss wie Dagobert Duck, der endlich auf Alibabas Schatz stößt.
Ist es etwa eine Satire auf die damalige englische Gesellschaft? Dafür gibt es so einige Beweise, wie zum Beispiel die Art und Weise, wie sich in Gerichtsverhandlungen auf nutzlose Details gestürzt wird und das Urteil bereits fällt, ohne Zeugen und den Betroffenen angehört zu haben. Oder dass derart viele damalige bekannte Gedichte in Carroll's Werk parodiert und zu grotesken Formen ihrer Selbst zerfleischt wurden?
Ist es eine Allegorie aufs Erwachsenwerden und das Finden seines Lebensweges? Wie beim zweiten Punkt besprochen, gibt es auch dafür mannigfaltige Beweise. Auch das Aufeinandertreffen von Alice und der Herzogin, die ihr eigenes Kind schlägt, das sich kurz darauf in ein Schwein verwandelt, oder Alice' Frage, wer sie nun sei, wenn sie sich verändert habe (siehe p. 19 in der 150th Anniversary Edition, Alma Classics Verlag), kann deutlich dafür sprechen.
Ist es eine Parabel auf einen psychotischen Schub, nachdem man LSD genommen hat?
Ist es eine mathematische Gleichung, in der Carroll addiert, sobald Alice wächst, und subtrahiert, wenn sie schrumpft?

Ist es möglich, dass es gar keine Botschaft hat und wir Leser einfach nur verzweifelt versuchen, festen Boden im abgehobenen Wunderland zu finden?
Wahrscheinlich würde sich Carroll ins Fäustchen lachen, wenn er erfahren würde, wie viele Male und auf wie viele verschiedene Weisen seine Geschichten interpretiert wurden und dennoch niemand einer befriedigenden Antwort nahe gekommen ist. Denn trotz seiner Genialität und all der Dinge, die man dort hineinlesen kann, ist es immer noch Nonsense, und so sehr man versucht, es als etwas Anderes zu sehen, es wird vorrangig immer Quatsch bleiben, der einem höllisch intelligent erscheint.

Müssen wir uns deswegen verarscht fühlen? Wütend das Buch aus unserer Sammlung verbannen, weil wir mehr hineingelesen haben, als es vermutlich je die Intention des Autors war? Unsere Emotionen und Gedanken, die wir damit verbinden, wegschieben und uns Büchern zuwenden, die einen Sinn haben?



Nein. Denn eine Geschichte muss keinen Sinn haben, um uns einen Sinn zu geben. Denn welche Geschichten sind wertvoller als diejenigen, die uns über das Lesen hinaus beschäftigen und die uns an etwas erinnern, uns etwas zeigen, dessen wir uns selbst vielleicht gar nicht bewusst waren? Welche Geschichten sind bedeuntender als diejenigen, die ein Teil von so vielen Menschen für so viele verschiedene Gründe sind, dass sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte andauern, nicht, weil sie Schullektüren sind, sondern weil wir sie von uns aus lesen?

Ja, Alice' Abenteuer sind definitiv etwas Besonderes, und durch die Kraft unserer Gedanken wird sie sogar noch ein Stück besonderer. Und das ist es, was die Alice-Dilogie außergewöhnlich besonders macht ❤


Wie steht ihr zu Alice' Geschichten? Habt ihr sie gelesen und geliebt? Und was ist eure persönliche Interpretation dieser unlogischen Werke?
Schreibt mir sehr gerne Kommentare :3

CU
Sana

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