Kapitel 2 - Oliwia
Samstag
Klopf-klopf-klopf-klopf, klopf.
Klopf-klopf-klopf-klopf, klopf.
Klopf-klopf-klopf-klopf, klopf.
Klopf, klopf, klopf, klopf.
Meine Fingerspitzen zitterten, als ich diesen Rhythmus an meinen Spind tippte.
Das sollten sie eigentlich nicht mehr, der Beat sollte mich beruhigen, meine Atmung dazu bringen, sich zu verlangsamen.
Mir traten Tränen in die Augen.
Ich tippte den Rhythmus noch ein mal, diesmal sang ich leise wie ein Atemhauch den Text mit. ,,The summer's not hot, the summer's not hot, the summer's not hot, 'til you show up.''
Ich wartete eine halbe Sekunde.
Nichts, mein Körper zitterte genauso sehr wie vorher.
Frustriert riss ich meinen Spind auf und kramte daraus meinen kleinen, schwarzroten Puma-Rucksack, in dem ich meine Anziehsachen versteckte, eine verwaschende, hellblaue Jeans und eine graue, luftige Tunika, ein Paar Socken, eine Lederjacke.
Ich grinste spöttisch.
Schon als ich die Kleider heute morgen anhatte, waren sie mir viel zu weit gewesen, so wie meine Jogging-Sachen oder mein Pyjama. Wenn sie mir nun, nach dem Schwimmen, wo einem immer alles zu eng war, noch passten wie Sachen in Übergrößen, dann waren sie fehlerhaft.
Sicher waren das Fehler, die Näherinnen hatten bestimmt einfach den falschen kleinen, weißen Zettel an die Klamotten geheftet. Nie im Leben passte ich in solch kleine Größen, nie!
Ich schüttelte schnell den Kopf,um meine Gedanken zu sortieren. Wasser flog in alle Richtungen, mein Haar platschte auf meine Schultern zurück.
Bloß nicht ablenken lassen. Beeilung! Ich musste mich beeilen!
Ich zog mir den ausgeleierten, hellblauen Badeanzug aus, der von oben bis unten durchnässt war, genau wie ich selbst. Meine nach Chlor duftenden Haare fielen mir in Rattenschwänzen auf die Schultern und meine Knie zitterten von der Kälte des Wassers.
Alleine schon, als ich heute morgen im Schwimmbecken gewesen war und meine Bahnen zog, hatte ich mich gefühlt wie in einer Kühltruhe.
Jetzt fühlte ich mich wie am kältesten Fleckchen in der Antarktis.
Unerträglich.
Obwohl die Besitzer dieses Schwimmbads doch eigentlich zwischen achtzehn und zwanzig Grad anheizen sollten, oder? Immerhin war es noch Januar.
Meine Zähne begannen zu klappern.
Ich schlang die Arme um meinen Körper. Gott, war mir kalt, auch ohne den Badeanzug.
Ich kniete mich hin, um ihn aufzuheben, steckte ihn in die Tasche, nahm stattdessen meine normale Kleidung heraus und streifte sie mir hastig über.
Seufzte erleichtert auf, als mir wärmer wurde. Wieder Kühltruhen-Temperatur, immerhin. Vor allem die Socken, die Unterhose und der BH halfen mir. Eine kleine zusätzliche Schicht zum Aufwärmen.
Jetzt lächelte ich halb, nur eine Sekunde lang.
Dann kniete ich mich wieder hin und nahm mein Handy aus der Seitentasche meiner Schwimmbadtasche, klickte einmal kurz auf den Bildschirm.
Bitte lass es nicht spät sein, bitte lass es nicht spät sein ...
11: 32.
Wieder ich seufzte erleichtert.
Ich glaubte, heute meinen persönlichen Rekord geschlagen zu haben.
Normalerweise fing das Schwimmtraining nicht vor neun Uhr an, ich war allerdings schon zehn Minuten vor da. Die nächsten zweieinhalb Stunden hatte ich mit höchster Konzentration meine Bahnen absolviert, Brust, Tauchen, Delfin, Kraulen, immer in der Reihenfolge, und wurde von niemandem angesprochen. Aufgrund meiner fleißigen Leistung war ich früher fertig, hatte dementsprechend zehn Minuten früher Schluss gemacht, nicht geduscht und hatte die Umkleidekabine für mich alleine.
Ich hatte noch acht Minuten.
Das war mehr als genug, um aus dem Schwimmbad rauszukommen, ohne jemandem in die Arme zu laufen.
Mein tägliches Ziel: Mit niemandem zu sprechen, außer, es war jemand aus der Schule oder meinem Dorf.
Hier in Offheim hatte ich die perfekte Gelegenheit dazu.
Meine Atmung wurde wieder langsamer. Ich hatte Zeit, genug Zeit, um mich wenigstens für ein paar Minuten zu entspannen, meine Knie dazu zu bringen, aufzuhören zu zittern.
In der Mitte der riesigen Umkleidekabine hatten wir eine kleine Bank für Rucksäcke und/oder Taschen, wenn alle Spinde bereits besetzt waren. Ich setzte mich auf die Bank, schlang die Arme um meine Knie , bettete meinen Kopf auf einer Kniescheibe und versuchte, mich noch mehr anzuwärmen, weinte schon fast, als es so warm wurde, dass ich doch tatsächlich anfing zu schwitzen.
Ich hatte seit Wochen nicht mehr aufgrund von Wärme transpiriert. Höchstens wegen Nervosität.
Mein Körper hörte auf, zu zittern und ich merkte, wie müde ich war. Ich blinzelte, damit mir die Augen nicht zufielen.
Das ging schon seit Wochen so, seit Wochen schlief ich nicht mehr als vier Stunden, fünf, wenn ich Glück hatte.
Ich seufzte. Ich hasste das, ich hasste das mehr, als alles andere in meinem Leben. Den Schlafmangel, den Schlafsand in den Augen, die Tatsache, dass ich mich völlig verausgabte.
Aber so war es nun mal, wenn ...
Meine Ohren nahmen rauschendes Wasser wahr.
Mein Kopf fuhr hoch, ich griff nach meinem Handy. 11:34 Uhr?
Nein, nein, nein! Wer war das? Niemand wurde vor 11:40 Uhr mit seinen Bahnen fertig, niemand!
Ich sprang auf, zog mir hastig die Lederjacke über, machte sie mit zitternden Fingern zu. Griff nach meinen Turnschuhen, versuchte sie zuzubinden.
Die Tür zur Umkleide ging auf.
Ich schloss die Augen. Mist, Mist, Mist! Dann öffnete ich sie wieder und sah ein blondes, schlankes Mädchen im schwarzen Badeanzug, das gerade rein kam. Ihre Haare waren in einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, sie war klatschnass, lächelte aber.
Einen Augenblick lang verspürte ich Neid. Sie konnte diesen mir verhassten Sport genießen, konnte ihre Bahnen in Ruhe und Trägheit ziehen, ohne sich Sorgen um die Zeit zu machen. Ich konnte all dies nicht, ich verbot es mir.
Das Mädchen bemerkte mich, als sie ihren Spind aufmachte, und lächelte. ,,Hi, Oliwia.''
Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen. Woher kannte das Mädchen meinen Namen? Sie ging weder auf meine Schule noch hatte ich je ein Wort mit ihr gewechselt; sie war auch nicht der Typ Mädchen, mit dem sich meine beste Freundin Nina abgeben würde.
Woher kannte sie also meinen Namen?
,,Hi ...'', erwiderte ich leise. Da ich ihren Namen nicht kannte, widmete ich mich wieder meinen Schnürsenkeln. Meine Finger zitterten wieder, verflucht. Ich spannte die Muskeln in ihnen so an, dass sie aufhörten. Es tat weh, aber Schmerz war manchmal besser als Angst.
,,Ich hab' dich heute beim Training gesehen; du bist wirklich total gut im Tauchen. Wie schaffst du es bloß, über zwei Minuten die Luft anzuhalten?'' Da ich sie weder ansah noch etwas erwiderte, fügte sie hinzu: ,,Ich wäre gestorben, wenn ich so lange unter Wasser bliebe.''
Schließlich sah ich doch von meinen Schuhen auf.
Die Blondine hatte sich an ihren Schrank gelegt und lächelte mich neugierig an. Mein Blick fiel von ihren deutschen Schönheitsgesicht zu ihren schlanken, sportlichen Beinen.
Das war Größe 36. Meine Baumstämme von Beinen nicht. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.
,,Äh ... keine Ahnung.'', antwortete ich schließlich und zuckte die Achseln. Plötzlich war es ganz trocken in meiner Kehle, ich wollte Wasser ... Essen.
Ich wurde wütend auf mich selbst und drückte meine Fingernägel in mein Bein. Schmerz. Kein Hunger mehr.
,,Ist alles in Ordnung?'', fragte das Mädchen und kam auf diesen verdammten Beinen auf mich zu. Ihre blauen Augen strahlten ehrliche Besorgnis aus.
Mir wurde übel.
So etwas konnte ich nicht zulassen, dass Menschen sich um mich sorgten. Es war weder für sie noch für mich gut.
,,Ist es'', sagte ich also schließlich und achtete darauf, extrem angepisst zu klingen.
Ich richtete mich auf, griff an ihr vorbei nach meiner Tasche und warf sie mir über die Schulter.
Nasse Finger schlossen sich um mein Handgelenk und ich erstarrte.
Kein Berühren. Ich hasste es, wenn mich jemand anpackte.
Ich wirbelte herum und konnte sehen, dass das Mädchen geschockt guckte. Sie nahm mein Gesicht unter die Lupe, strich mit dem Daumen über mein Handgelenk und schließlich merkte ich, dass sie es wusste.
,,Mein Gott.'', flüsterte sie und schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen.
Ich riss mich los und wollte mich an ihr vorbeidrängen.
Nicht hier, nein, nicht hier!
,,Oliwia! Willst du darüber reden?'', rief sie mir hinterher, als ich die Hand am Knauf hatte. ,,Ich verspreche, dass ich es niemandem erzähle. Bitte, du musst darüber mit jemandem reden!''
Kurz erwägte ich diese Möglichkeit. Mit jemandem darüber reden, mich öffnen. Mein wahres Ich präsentieren.
Nein, das war total abwegig, das durfte, konnte, wollte ich nicht.
Ich war allein, und das sollte gefälligst auch so bleiben. Nur so konnte ich weitermachen.
,,Keine Ahnung, was du meinst.'' Ich drehe den Oberkörper zu ihr und sah, wie bleich sie war.
Ich konnte hier ruhig unverschämt sein. Das hier war niemand, der jemanden kannte, der mich kannte. Sie war nicht in meinem Bekanntenkreis. Sie war nichts Bedrohliches, ich konnte hier so giftig sein, wie ich wollte. Wie Nina.
,,Doch, das tust du.'', beharrte sie und kam wieder auf mich zu.
Ich hielt eine Hand hoch. ,,Spar's dir. Wenn du meinst, mit mir ist etwas, dann will ich dir diese Illusion nicht nehmen. Obwohl es natürlich darauf hinweist, dass mit dir etwas nicht stimmt.'' Gemein sein vertrieb die nervigen Leute.
,,Oliwia ...''
,,Wiedersehen!'', flötete ich zickig, dann schlenderte ich betont cool aus der Kabine.
Kaum war ich draußen, beschleunigte ich meine Schritte und rannte weg. Ich musste mich beeilen, ich musste hier weg, weg von diesem neugierigen Mädchen. Sie würde Probleme machen, wenn ich sie an mich ran ließe.
Als ein Einwegspiegel zur Schwimmhalle auftauchte, blieb ich stehen, schaute mir die Schwimmer und Schwimmerinnen an, die lachten, sich mit Wasser vollspritzten und total entspannt aussahen.
Ich hatte Menschen, die gerne schwammen, nie verstanden. Es war ein eigenartiges Gefühl, auf dem Wasser zu sein, wie in der Höhle des Löwen befand man sich dann mitten in der Gefahrenzone, man konnte sterben, wenn man nur einen Fehler machte.
Ich hasste solche Risikos. Entweder starb man absichtlich oder wollte so etwas wie Adrenalin oder aber man ließ die Finger davon.
Ich wendete mich ab und stürmte die Treppe hinunter.
Das war einer der Gründe, weshalb ich in diesem Verein schwamm. Ich verabscheute diese Sportart wegen allem, was sie ausmachte, und das machte es so einfach, nicht mit den Leuten sprechen zu wollen, die diesen Sport gern hatten. Es war einfacher, isoliert zu bleiben, sich keine Gedanken darüber zu machen, ob sie dich schön und nett fanden oder dich nicht ausstehen konnte. Hier konnte ich endlich etwas entspannen, wenigstens ein mal pro Tag.
In der Schule musste ich mir Mühe geben wegen den Noten, der Mitarbeit und meinen Klassenkameradinnen; es sollte alles den Anschein haben, als hätte ich keinerlei Probleme. Zuhause ... dort tat ich so, als wäre ich gesund, ich war glücklich, ich kuschelte mit meinen Eltern, verbrachte viel Zeit in meinem Zimmer, vor dem Fernseher ... wenn Mama nicht da war und Papa schlief, auch auf der Toilette.
Das war mit dem Schwimmen am Samstag und Mittwoch der halbe Tag.
Die andere Hälfte bestand aus Isolierung. Ich spazierte irgendwo herum, joggte im Wald und in seiner Nähe, mied öffentliche Plätze, mied Menschen.
So konnte ich leben. Es war anstrengend und machte, dass ich einen frühen Tod sterben wollte, aber ich konnte es.
Ich konnte alles, wenn ich es nur ganz fest wollte.
Als ich draußen war, überflutete mich die Kälte so augenblicklich, dass ich nur schwer bis zu meinem Fahrrad kam. Ich hasste den Januar.
Noch zwei Monate und vier Tage bis zum vierzehnten März. Meinem fünfzehnten Geburtstag.
Nina wollte ihn mit einem gewaltigem Tohuwabohu feiern; für sie war die Fünfzehn eine wichtige Zahl. Wahrscheinlich, weil es die offizielle ,Ich-Kann-Nun-Eine-Schlampe-Sein'-Zahl war, jedenfalls aus ihrer Sicht.
Bei dem Gedanken lächelte ich halb, schwang mich aufs Fahrrad und radelte geschwind nach Hause.
Der heftige Fahrtwind störte mich etwas, aber es ging. Meine Hände zitterten nicht, sie waren bis aufs Äußerste angespannt.
Die Töne von dem polnischen Hit ,Małe Rzeczy' zaubern ein echtes, glückliches Lächeln auf mein Gesicht.
Ich halte an einer Kreuzung an und nehme mein Handy aus der Schwimmtasche.
Das Foto von meiner Latina-Freundin Nina leuchtet auf.
Erfreut nehme ich den Anruf entgegen. ,,Hi, Nina.''
Am anderen Ende der Leitung war ihre hohe, aufgedrehte Stimme zu hören. ,,Hi, Olive. Wie geht's dir?''
Ich klemmte das Handy zwischen Ohr und Kapuze, dann setzte ich mich wieder auf mein Fahrrad, fuhr wieder los. ,,Standard. Dir?''
,,Standard, natürlich!''
Wir lachten. Die Frage nach dem Wohlergehen war ein kleiner Insider zwischen uns; es war die erste Frage, die wir uns stellten, wenn wir uns sahen oder telefonierten und irgendwie fanden wir das lustig. Mit Nina war alles lustig.
,,Was gibt's denn, Nin?'', fragte ich neugierig.
,,Nichts, außer, dass du und ich und meine Freunde nächste Woche Freitag in den J-Club gehen.'', flötete sie.
Ich kicherte. ,,Solltest du mich nicht fragen, ob ich mitkommen will?'' Ich sah bereits unsere kleine Wohnung vor mir, nur noch zehn Meter. Ich strampelte schneller.
Sie seufzte pseudo-genervt. ,,Schatzi, du bist doch mein wichtigster Gast überhaupt! Bitte, bitte komm - mit Hundeaugen-Blick!''
Damit hatte ich verloren. Ninas Hundeaugen waren einfach nur mitleiderregend, egal, wie hart man war. Sogar einen zwei Meter großen Berg von Schläger hätte sie mit diesem Schmollen zu allem überzeugen können. Obwohl, einen Mann konnte jede Frau überzeugen, wenn sie was Aufreizendes anhatte.
,,Na schön, du hast gewonnen. Ich komm' ja.''
,,Yippie-ja-yay!'', kreischte sie und ich lachte, weil es so komisch klang. ,,Was ziehst du an?''
Ich hielt vor unserem kleinen Haus, sprang von meinem Fahrrad runter und blickte in den Wald hinter unserem Haus. Kein Frühling in Sicht. ,,Keine Ahnung. Wie wär's mit dem kleinen Schwarzen?''
,,Nein! Das auf gar keinen Fall!'', piepste sie alarmiert.
,,Warum das?''
,,Da kommen Jungs, Oliwia! Willst du dich allen Ernstes als Gothic-Tussie verkaufen, wenn ich die besten Typen meiner Schule eingeladen habe?''
So war Nin: Sie wollte um jeden Preis immer so viele Jungs wie möglich um sich haben, egal, ob sie gerade Single oder vergeben war. Klar, bei ihren weiblichen Reizen.
Aber ich? Nina würde doch so oder so der Star des Abends sein, warum also sollte ich mich in Schale werfen, nur um dann Mäuschen zu spielen? Außerdem würde ich schauspielern müssen, dass alles okay war, ich müsste lächeln, lachen, so tun, als würde ich diese Leute mögen, mit denen Nina abhing. Mal wieder.
Es war mittlerweile ein Teil von mir geworden; mein zweites Ich, das aufgebaute Ich ohne Risse. Die einsame Oliwia war nirgends zu sehen, außer für mich, wenn ich in den Spiegel sah oder Wanderwege entlang rannte.
,,Was schlägst du dann vor?'', fragte ich sie schließlich, während ich mein Rad in den Keller führte, es anschloss und die Treppe hoch zu unserer Wohnung ging.
,,Hm ... Ich denke, das lila Kleid wäre gut.'', meinte sie.
,,Du machst Witze, oder?'', fragte ich geschockt. Das lila Kleid, von dem sie sprach, ließ so viel Busen frei, dass man den BH ohne Probleme sah, und der Rock reichte einem nur knapp über den Hintern. Sie hatte es mir zu Weihnachten geschenkt, dabei augenzwinkernd ,,Zum Anheizen'' gesagt und ich hatte ihr gedankt, obwohl ich es furchtbar fand. Zwar furchtbar schön, aber auch furchtbar nuttig.
,,Nein!'', meinte sie verwundert. ,,Ich wollte dich schon immer mal in dem Teil sehen. Du mit deinen schicken Beinen siehst doch super darin aus, ganz bestimmt. Außerdem, Mausi, will ich schon sooo lange, dass du mal einen Typen abbekommst. Ich hasse es, mit all meinen Freunden auf Doppel-Dates zu gehen, während du nur zuhause vor dich hin schmorst. Bitte.''
Ich runzelte die Stirn und lehnte mich ans Geländer der Treppe. So unrecht hatte sie ja nicht. Ich hatte noch nie einen Freund gehabt, und das eine Mal konnte man wohl kaum als eine Beziehung bezeichnen.
Ich schloss die Augen, krallte meine Fingernägel in meinen Arm. Nicht denken, nicht denken, nicht denken. Schmerz. Loslassen. Gut.
Aber wollte mich allen Ernstes ein Junge haben, wenn ich mit so einer Figur dieses Mini-Kleid anziehe? Vergraule ich damit nicht alle?
,,Bist du dir sicher, dass einer auf mich abfahren würde?''
,,Komplettomat! Du bist eine heiße, kleine Polin, Oliwia, und die lässt du auf der Party auch raus.''
Ich seufzte. Es hatte eh keinen Sinn, mit Nin zu streiten. ,,Also gut, dann ziehe ich es halt an.''
,,Yippie-ja-yay!'', jubelte sie wieder.
Wir redeten noch eine Weile über die Gäste, wobei ich mir insgeheim schon dachte, dass es unterbelichtete Freunde aus ihrer Schule sein würden, dann versprach sie, mich morgen wegen der Partyzeit und -planung anzurufen, da ich als beste Freundin ja die Pflicht hätte, ihr dabei zu helfen. Ich legte auf und starrte das Handy noch eine Weile an. Dann schüttele ich schnaubend den Kopf. Eine Party mit Nin und all ihren Freunden. Bestimmt würde es nicht glatt ablaufen, ganz egal, wie gut wir nun planten.
Als ich die Tür zu meinem Zuhause aufschloss, wurde ich schnurstracks von meiner Mutter begrüßt, die in einer mit Mehl verschmierten Schürze auf mich zugerast kam. ,,Ach, kochanie, du bist schon wieder da? Wie schön!'' Sie wollte mich umarmen, aber ich deutete lachend mit dem Finger auf ihren alles andere als sauberen Bauch und ... na ja, alles eben.
,,Ähm, mamo?''
,,Ach ja, richtig, richtig. Aber wieso bist du denn so schnell wieder da?'' Sie beäugte mein Gesicht genauer. ,,Und warum sind deine Haare noch nass?''
Ich griff mir an die dunklen Locken. Mist, warum konnte der Wind sie nicht trocknen, wenn er schon so heftig war? ,,Ich war heute einfach schneller fertig als sonst. Und die Föhne sind heute ausgefallen, lag an irgendeiner Überlastung.''
,,Ach so, gut. Dann kannst du mir ja beim Backen helfen, oder?'', fragte sie lächelnd. ,,Das haben wir schon lange nicht mehr zusammen gemacht.''
Ich setzte ein Lächeln auf. ,,Mhm. Aber erst will ich zu tata. Wo ist er?''
Sie deutete zum Wohnzimmer.
Ich ließ meine Schwimmtasche fallen und stolperte in das blitzeblank geputzte Zimmer.
Mein Vater lag mit nackten Füßen auf seinem Bett und schaute Fernsehen. Es lief gerade eine seiner Lieblings-Serien und er schaute sie sich mit konzentriertem Blick an.
Ich marschierte zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die vom Dreitagebart kratzige Wange. ,,Hallo, du.''
Er lächelte mich an, seine blauen Augen, die auch die meinen waren, schauen mich freudig an. ,,Hej, córcia.'' Er küsste mich zurück, während mir bei seinem Spitznamen ,Töchterchen' ganz wohlig und warm wurde. Wenigstens das hatte er noch im Kopf behalten können: seinen Spitznamen für mich.
Im Unterschied zu allen anderen Leuten in meinem sozialen Umfeld waren mama i tata die Einzigen, bei denen es mir was ausmachte, wenn ich sie anlog. Wenn ich wegging, um nicht mit ihnen zu essen. Wenn sie mir eine Tafel Schokolade schenkten, nur damit ich sie wegwarf. Wenn ich ihnen erklären musste, warum das Klo so schmutzig war. Wenn ich mich früh morgens aus dem Haus schlich, um noch ein wenig Sport zu treiben.
Es tat mir in der Seele weh, aber sie liebten mich trotzdem. Der polnische Familiensinn war oftmals ausgeprägter als der ums Überleben. Sie würden alles für mich tun, und ich alles für sie.
Aber sie würden irgendwann ein Hindernis sein, mein Ziel zu erreichen. Und da ich war feige genug war, den einfachen Weg zu gehen, den, wo die Hindernisse kleiner und leichter zu überbrücken waren, konnte ich mir einfach keine anderen mehr stellen.
Liebe war Hindernis.
Zu viel Liebe von meiner Seite würde mich umbringen, die Sache umbringen, allem, was ich mir aufgebaut hatte, die Kehle durchschneiden.
Da war Isolieren schon leichter.
Nur ich, Musik und die Sache. Sonst war alles fast unwichtig.
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