Sonntag, 3. Februar 2013

♥My Story♥ Confirm my mind - Gefirmt geholfen (Kapitel 1)

Kapitel 1 - Dawid:

Krank




9. Klasse, Dauborner Gesamtschule, Freitag, Jetzt



Wie immer verstand ich nicht, was Frau Heller sagte. Okay, ich hätte es verstehen können, würde ich mir die Mühe geben, ihr zuzuhören. Ich sah nur, wie ihre Lippen sich bewegten, die großen, rosa, mit Lippenstift bemalten Lippen, von denen jeder Typ in meinem Alter träumte.

Heller war allerdings auch echt heiß, wie sie dort auf ihrem Tisch saß, die langen Beine schauten aufreizend aus dem kurzen Jeansrock hervor, und ihr langes, platin- aber definitiv nicht echtes blondes Haar fiel ihr über die Brüste, die zu unserem Leiden leider sehr gut verpackt waren.
Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Jungs in meiner Klasse davon träumten, sie für sich allein zu haben. Wie viele Jungs sich immer sie vorstellten, wenn ihnen gerade langweilig war und sie anfingen, sich einen runterzuholen. Wie viele von ihnen sie nackt gezeichnet hatten.
Aber leider wusste ich es, ich hätte es auch gewusst, wenn die Jungs sie nicht mit offenen Mündern anstarren würden, als hätte sie gerade fliegende Schafe zur Welt gebracht. Denn die Jungs erzählten mir wie immer total viel, vor allem Martin, mein bester Freund, der sich gerade den Mund zu einem Lächeln verzog, als sich Heller umdrehte, um etwas an die Tafel zu schreiben und er freie Sicht auf ihren Hintern hatte.
,,Ja, Mann'', murmelte er und ich stieß ihn mit dem Ellbogen an. ,,Was denn? Sie ist nun mal echt ...''
,,Ich weiß, Martin. Aber stell' dir deine kleinen Fantasien vor, wenn ich nicht neben dir sitze.'' Ich deutete vielsagend auf seine Manga-Zeichnung von Heller ohne Bluse.
Er murmelte etwas Unverständliches, legte ein Heft über das perverse Zeug auf dem Tisch und lächelte selbstzufrieden.
Ich verdrehte bloß die Augen und schrieb das Zeug von der Tafel ab. Mich interessierte Prozentrechnung zwar nicht die Bohne, aber je eher ich es konnte, desto schneller würde die Zeit hier vorbeigehen. Und klar, Heller war wie gesagt heiß - aber dicke Eier vernebelten einem doch eh nur das Hirn.
Nach Mathe hatten wir Mittagspause, und als ich mich hinter Martin in die Schlange stellte, erhaschte ich einen Blick auf Elena, ein Mädchen, dass ich noch aus meiner Grundschulzeit kannte. Wie immer saß sie alleine am Esstisch und stocherte in ihren Kartoffeln herum, die Haare hingen ihr in der Soße, aber ihr schien es nichts auszumachen.
Ich verdrängte den Drang, zu ihr zu gehen und mich mit ihr zu unterhalten und nahm mir ein Tablett von der Anrichte, schob mich in der immer kürzeren Reihe weiter vorwärts. Martin quasselte immer noch über Hellers Busen, also schaltete ich meine Ohren auf Durchzug, da er sowieso den Großteil unserer Zeit zusammen redete.
Nach der Grundschule war ich direkt hierher, auf die Dauborner Gesamtschule, gekommen. 
Versteht mich nicht falsch, die Schule war cool, die Räume waren geil eingerichtet, mit Postern von Sängern und Schauspielern und so, und man verstand sogar einigermaßen die Sachen, die die Lehrer uns beibringen wollten - aber die Leute hier waren etwas merkwürdig.
Es gab die, die aufs Gymnasium gingen, die Oberschlauen also, dann die Realschüler, übersetzt: die Normalos, und dann uns Hauptschüler, die Dummen Schrägstrich Idioten. 
Wir lebten schon beinahe getrennt, wie in Gehegen, hatten zu unterschiedlichen Zeiten große Pause und Schulbeginn. Keine Peile, woran das lag, aber manchmal war ich ziemlich undankbar für dieses Privileg. 
Beinahe alle Jungs der Klasse waren nämlich an diese Schule hier gekommen, und eigentlich wollte ich mich mit ihnen zusammenschließen - na ja, ich kannte sie eben schon, dann bräuchte ich mir keine Clique mehr zu suchen und noch mal von vorne Leute kennen zu lernen. Aber diese Zeiten machten mir einen Strich durch die Rechnung.
Und außer der Mittagspause, die eigenartigerweise bei allen um dieselbe Zeit war, hatte ich nur meinen schon damals besten Freund Martin und die schüchterne Elena.  
Die Leute hier blieben immer in den Cliquen der Gymis, Reals und Haupts; sie hingen nicht mit jemand anderem rum. Es war schon beinahe krank, dass sich eine Schule so spalten konnte wie ein Land.
Noch komischer: Obwohl ich definitiv ein Ausländer war, wurde ich hier akzeptiert wie ein vollblutiger Deutscher. 
Es war unnormal für mich, aber anscheinend galten hier nur IQ-Trennungen, und kein Rassismus.
Aber wieder zu meinen einzigen ,alten Kumpels' hier: Seit einiger Zeit bemerkte ich, dass ich eher Zeit mit dem Mädchen verbringen würde als mit meinem Freund. Okay, es war immer noch geil, mit Martin Games zu zocken und über alle möglichen Leute herzuziehen oder über anderes Zeugs zu reden, aber er quatschte mehr als ein Mädchen - mehr als ich sogar, und ich quatschte noch zwei mal mehr als ein Mädchen, wenn ich Lust dazu hatte. Und er war pervers geworden.
Pervers sein. Das war schon fast eine Krankheit, die sich immer schneller in den jüngeren Generationen ausbreitete; immer mehr Jugendliche und Teens wollten rauchen, Alk trinken oder auch einfach vögeln und rumknutschen. Ich rauchte ja sogar selbst! Und trinken tat ich auch oft.
Man kam nicht dagegen an, egal, wie sehr man es versuchte. Irgendwann benutzte jeder wenigstens das Wort ,Fuck' oder ,Scheiße'. Und Jungfrau sein würde bis zum Lebensende eh niemand mehr. 

Eine verrückte Art von Sozusagen-Gruppenzwang. Feierst du nicht, bist du langweilig und aus dem Schneider. Dann bist du merkwürdig. Man hatte quasi keine andere Wahl.

Ich passte einen Moment ab, in dem Martin aufhörte zu babbeln, dann sagte ich: ,,Hey, Mann - ich geh' mal rüber zu Elena, ja?''
Martin, der gerade den Hot-Dog und den Schokoladenkuchen - ihr seht, unsere Schule lieeeebt gesunde Ernährung - begierig anstarrte,  hob den Kopf. Er sah verdutzt aus. ,,What?'', schnaubte er empört. ,,Warum hängst du eigentlich mehr mit dieser Fettsau rum als mit mir?'' Seine Stimme, die gerade die Zeit des Stimmbruchs durchmachte, überschlug sich.
Ich unterdrückte ein Kichern - er klang so idiotisch -, obwohl ich eigentlich auch wütend war. ,,Martin, red' nicht so über sie. Okay, sie ist etwas ... molliger ...''
,,Sie ist ein Elefant in Designerklamotten!'', keifte Martin und deutete mit dem Arm, der den Hot-Dog festhielt, auf meine beste Freundin.
Ich sah ihn warnend an. ,,Aber trotzdem ist sie doch nett. Außerdem faselt sie wenigstens nicht so viel Scheiße über Brüste und Ärsche.'' Jetzt war ich zu weit gegangen, das wusste ich. Aber manchmal wollte ich meine echten Gedanken einfach nur loswerden.
,,Wie auch, lesbisch ist sie ja nicht ... leider.'', meinte Martin, aber bevor ich ihm eine verpassen konnte, ging er schon zu unserem üblichen Cafeteria-Tisch, wo wir mit den Jungs aus der Grundschule aßen und laberten. Sie begrüßten ihn mit einem Faustschlag auf die Schulter und einem ,Yeah, Mann!' oder ,Hey, Alter!'.
Der konnte vergessen, dass ich heute dort sitzen würde! Ich hasste es, wenn er meine Freunde beleidigte. Insbesondere meine weiblichen Freunde; da hatte ich immer den besonderen Drang, sie zu schützen.
Die Cafeteria-Trulla deutete mit gelangweilten Gesicht auf die zwei Hauptmahlzeiten: Kartoffeln mit Hühnchen oder aber auch Fischstäbchen mit Babymeis.
Uah, die Wahl war sofort klar. ,,Ich nehm' die Kartoffeln.''
Sie lud mir das Essen auf den Teller.
Als sie fertig war, schlenderte ich durch die immer voller werdende Café rüber zu Elena, die immer noch kaum etwas von ihrem Essen angerührt hatte. Eigenartig. Normalerweise aß sie wie ein Scheunendrescher.
Ich setzte mich hin und lächelte sie an. ,,Hi, Eli.''
Sie blickte ganz kurz von ihrem Teller auf, ihre stark geschminkten Augen waren ausdruckslos, nicht so belustigt und fröhlich wie sonst. ,,Hi.''
Ich beugte mich besorgt zu ihr rüber. ,,Was ist denn los?''
Sie hielt mit dem Stochern im Essen inne und sah beinahe schon wütend an. ,,Ach, gar nichts, lass mich einfach.''
Ich hob beruhigend die Hände. ,,Wo-ho, mit dem falschen Fuß aufgestanden?''
Sie pfefferte die Gabel beiseite und sah mich aus zusammengekniffenen Augen an. ,,Ja. Und weißt du, was ich im Briefkasten gefunden habe, als ich mit diesem falschen Fuß nach draußen gegangen bin?''
Meine Augenbrauen zuckten nach oben, als sie einen blauen Brief auf den Tisch legte. Ihre langen, manikürten, lila lackierten Fingernägel deuteten auf ein einziges Wort. Firmung.
,,Und da musst du teilnehmen, oder was?'', fragte ich ahnungslos. Was war eine Firmung überhaupt?
Sie verdrehte zickig die Augen. ,,Dawid, da muss nicht nur ich teilnehmen, sondern auch alle anderen, die im Jahre 2008 die Kommunion gehabt haben.''
Mir rutschte die Gabel aus der Hand, die braune Soße klatschte mir aufs T-Shirt. ,,Nicht dein Ernst.''
,,Oh doch. Und ich wette, deine Eltern reiben sich schon die Hände, um dich wieder zu so einem Langweiler-Treffen zu schicken.'' Dieser Satz schien ihre Laune etwas gebessert zu haben, denn sie lächelte leicht. Schadenfreude war die schönste Freude.
Oh nein! Ich ließ den Kopf polternd auf den Tisch knallen. ,,Bah. Keine Lust.''
,,Hm-hm, siehst du mal, dass ich nicht immer ohne Grund sauer werde.'' Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken. ,,Was denkst du, was wir da wieder machen müssen?''
,,Woher soll ich das denn wissen? Wahrscheinlich werden wir wieder über so was wie Selbstfindung oder Meditation reden.'', erwiderte ich angenervt und aß zwei Gabeln Kartoffeln.
Sie lachte. ,,Kann sein - dann muss ich aber mein Kissen mitbringen, dann wird es bequemer, dort zu schlafen.''
Ich lachte mit. 
Es ging ihr wieder gut, also ging es auch mir gut. 
Man konnte von mir behaupten, was man wollte, aber ein wahrer Freund war ich. Man konnte immer zu mir kommen und von Problemen erzählen, und ich würde dichthalten. Nur wenn es um mich ging ...
,,Wieso sitzt du eigentlich nicht bei deinen Homies?'' Elena grinste und nahm einen Schluck Cola.
Ich grinste ebenfalls ein bisschen. Homie war ihr neues Lieblingswort, eben weil es sich so bescheuert anhörte. ,,Ach, Martin ist einfach nur ein Pisser.'' Ich wich der Antwort aus, um ihr nicht zu sagen ...
,,Hat er mich wieder eine fette Kuh genannt?'', fragte sie wie nebenbei, aber ihre zusammengekniffenen Lippen erzählten mir, dass sie am liebsten schreien und weinen wollte.
,,Elefant in Designerklamotten trifft's eher.'', erwiderte ich leise und legte ihr eine Hand auf ihre. Sie tat mir Leid.
Okay, ich war zwar auch nicht gerade schlank, aber Elena hatte wirklich so viel auf den Rippen, wie man es aus Amerika kannte. Außerdem schminkte sie sich zuviel, was zusammen mit ihren engen Klamotten auf dem molligen Körper nicht so schön aussah, wie sie meinte. 
Aber das war mir egal. Ich kannte sie doch seit dem Kindergarten, wir waren echt gute Freunde, und ich würde lieber eine Abreibung von Leon und Lothar, den Spacko-Zwillingen, riskieren, als so eine nette und liebe Person allein zu lassen.
Ihre Faust ballte sich und sie zog die Hand zurück, die Unterlippe zitterte. ,,Schon gut.'', flüsterte sie und wischte sich kurz mit einem künstlichen Fingernagel über ein Auge.
,,Die Typen sind einfach nur oberflächlich, vergiss sie.'', riet ich ihr, doch in der selben Zeit schelte ich mich einen Idioten. Ich war ja selbst mit den oberflächlichen Typen befreundet. Já jsem hloupí.
Wenn man vom Teufel sprach, genau dann, als ich diesen vor Selbstmitleid triefenden Gedanken hatte, trat eine Vierzehnjährige auf High Heels in die Cafeteria, gefolgt von ihrer Schar von Freunden. Sie lachten und die Jungs aus meiner Clique beobachteten Nina Hartweg, die sich gerade einen Salat auf ihr Tablett holte.
Nina war das beliebteste Mädchen der Mittelstufe, was vor allem daran lag, weil sie groß, dünn und schlau genug war, einen Push-Up der Größe C zu tragen, der ihre Entenbrust verdeckte - wie gesagt, ich hatte Augen und Ohren wirklich überall -. Außerdem war sie eine richtige Schönheit, typisch für eine Italienerin. Braune Augen, schwarze, hüftlange Haare und ein atemberaubendes Lächeln. Ach ja, und teure Klamotten von Prada oder Chanel oder sonst welchen Modelabels. Elena kannte sich damit siebenmillionen mal besser aus als ich.
Als Nina mich sah, winkte sie mir verspielt zu und schritt mit langsamen Schritten zu meinem Tisch. Elena hob den Blick von ihrem Teller und grinste sie erfreut an.
Nina war mit allen befreundet. Widerstand war zwecklos. 
Sie lächelte Eli kurz zu, dann blickte sie zu mir. ,,Hi, Dave. Was gibt's?''
Ich gab mir Mühe, zurückzulächeln. Ich hasste diesen Spitznamen. Und ... Gut, das Mädchen war heiß, verdammt heiß - aber sie war für so ein junges Mädel einfach viel zu gefaked. ,,Nichts.'' Ich wollte mich wieder meinen Kartoffeln widmen, aber sie legte ihre Hand auf meine, sodass ich geschockt innehielt. Sie strich mit ihrem rosa lackierten Daumen über meinen Handrücken.
,,Hör mal, Dave ... ich gehe nächste Woche am Freitag mit meinen Freunden in den J-Club in Limburg. Du kommst natürlich mit, hab' ich recht?'' Sie setzte sich doch tatsächlich auf den Tisch.
Ich unterdrückte ein Lachen. Das Mädel hielt sich für unwiderstehlich, obwohl sie nur eine děvka war. Aber auf Tanzen und coole Mukke hatte ich schon Lust. ,,Klar, wieso nicht? Wer kommt alles mit?''
Sie zuckte die Achseln. ,,Meine Clique und meine BF, Oliwia.'' Bei dem Namen wurde ihre Stimme schon beinahe zärtlich.
Ich hatte einen kleinen Flashback. 
Oliwia. 
War das nicht das Mädel, das in der Grundschule die Außenseiterin schlechthin gewesen war? Was hatte die mit Nina zu tun? ,,Klar, ich komme.''
Sie grinste übermütig. ,,Cool.'' Nina wandte sich an Elena. ,,Und du? Willst du auch kommen?''
Elena machte große Augen, nickte dann aber heftig.
Nina grinste noch breiter. ,,Super,  dann bis dann!'' Sie trippelte zurück zu ihren Freunden, während sie so heftig mit den Hüften wackelte, dass sie sich wahrscheinlich was brechen würde, wenn sie so weitermachte. Ihr blassrosa Rock, der ihren Hintern kaum bedeckte, betonte die gebräunten Beine und das enge lila Top ihren Push-Up.
Ich wettete, dass Martin gerade mit offenem Mund dem Mädel hinterherstarrte, der Idiot.
,,Du hast gar keinen Bock auf Nin, hm?'', fragte Eli mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen.
Ich zuckte die Achseln. ,,Vielleicht wird's ja nett - wenn sie mir nicht wieder auf die Pelle rückt.''
Sie kicherte und aß weiter. 
,,Mal ehrlich, Eli, wie kannst du mit ihr überhaupt befreundet sein wollen?'', fragte ich, als ich fertig war und die Servierte in meinen Händen knetete.
Elena zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. ,,Ach, keine Ahnung. Man muss sie einfach mögen. Und sie kann auch manchmal echt nett sein.''
Ich ziehe spöttisch die Augenbrauen hoch. ,,Ja, wenn sie ein Anhängsel braucht, schon.''
Sie stieß mich mit dem Ellbogen an und lachte, obwohl sie wusste, dass ich recht hatte.
Doch leider spürte ich Ninas große, braune Augen auf mir, sodass ich nicht mitlachen konnte.

Als ich aus dem Bus, der mich zurück nach Linter gefahren hatte, stieg, ging ich mit langsamen Schritten nach Hause, genoss die Aussicht.
Es war zwar noch Januar, aber die Felder waren in dem Stadium, wo der Schnee bereits schmolz, aber trotzdem an einigen Stellen noch in Massen vorhanden war. 
Das Gras auf dem riesigen Feld, das sich von der Straße nach Norden erstreckte und auf dem man sich super Sonnen oder seine Hausaufgaben erledigen konnte, war deswegen in eine schillernde Decke aus Tau getaucht. 
Die Luft war kühl, aber trotzdem warm genug, dass ich in meinem Kaputzenpulli gehen und die Winterjacke ausziehen konnte. Ich genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, die sachte Kühle auf meinen Armen. Ich lächelte leicht. Pěkné.
Als ich in unserem kleinen Wohnviertel ankam, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte - da waren Stimmen aus meiner Wohnung zu hören.
Ich beschleunigte meine Schritte, riss, als ich an unserem Haus war, die Tür auf und sah meine Mutter und meinen Vater gerade streiten.
,,Könntest du nicht mal deinen Scheiß-Arsch weg bewegen von deinem Computer?'', schrie máma und warf einen Putzlappen nach meinem PC-holic-Vater, der nicht mal den Kopf bewegte, als der Lappen ihn an der Schläfe traf.
,,Ja ja, warte kurz, Hania.'', murmelte er und klickte mit seiner Maus auf etwas im PC.
Meine Mutter warf die Hände in die Luft. ,,Du verfluchter Kerl! Kannst du vielleicht etwas anderes tun, als dich vor dem Bildschirm verfaulen zu lassen?''
Als er nicht reagierte, kniete sie sich zu Boden und zog den Stecker aus der Dose.
Der Bildschirm wurde schwarz.
Mein Vater, der sich nicht mal rasiert hatte heute, sah wütend auf. ,,Hey! Ich war da gerade was am Machen!''
,,Das interessiert mich einen Scheiß, Michael! Ich will, dass du mir im Haushalt hilfst oder wenigstens mit deinem Sohn Fußball spielst!'', keifte sie und strich sich die blonden Locken aus der Stirn. Sie waren in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sie hatte wahrscheinlich gerade geputzt.
Ich lehnte mich an die Wand. Das konnte ja interessant werden - sie sprachen über mich.
,,Ach, Dawid. Der ist doch sowieso nie da - bei seinen Freunden oder so! Und du - du hast doch den Haushalt im Griff, Frau!'', stotterte er und griff nach dem Kabel des PCs.
Meine Mutter hielt ihn hinter ihren Rücken, sodass mein Vater ihn nicht erreichen konnte.
Ich grinste leicht. Coole Aktion, Mom.
,,Hast du dich schon mal hier umgesehen?''
Da hatte sie nicht ganz unrecht. Das Haus war verschimmelt an der Decke und auch an einigen Wänden, und es roch immer nach Tunfisch und Dorsch. 
Manchmal, wenn ich den Fernseher anschaltete, war mein Finger nach dem Berühren der Fernbedienung kohlrabenschwarz vom Staub.
Und das Bad - da wollte ich gar nicht erst mit anfangen.
Mom gab sich wirklich Mühe, alles sauber zu machen, aber das Haus war nun mal zu groß für eine einzelne Frau, möge sie noch so entschlossen sein. Und mein Vater spielte nur am PC und wir waren ihm scheißegal.
Ich schluckte einen Kloß im Hals runter. Ich wollte nicht weinen.
Es war Jahre her, seit wir einen Familienausflug gemacht hatten ...
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, denn schon fingen sie mit den vulgären, tschechischen Beleidigungen an, in denen es immer gut war, wenn ich eintrat. Sie waren meine Eltern, und selbst wenn sie sich so gut wie gar nicht um mich kümmerten - ich wollte nicht, dass es ihnen schlecht ging.
Ich zerrte die beiden wie eine Nanny auseinander und herrschte meinen Vater an. ,,Dad, Mom hat Recht. Du könntest ihr ruhig beim Mittagessen-Machen mal zur Hand gehen. Och, bitte.'' Mit diesem Hundeblick konnte man so gut wie jeden Menschen überzeugen.
Mom strich mir dankbar durchs Haar, dann machte sich beide wieder Hand in Hand auf dem Weg in die Küche.
Liebe. Ich würde das nie verstehen.
Ich setzte mich auf unser altes Sofa und mühte mich mit Deutsch ab, hin und wieder schaute ich auch Two And A Half Man an. Heute lief das irgendwie den ganzen Tag.
Nachdem Mom und Dad gegessen hatten, legte Mom mir einen Zettel auf den Tisch. Ich wusste bereits, was das war: Der Firmungszettel.
Ich stöhnte mit zurückgelegtem Kopf. ,,Muss ich wirklich?!''
Sie nickte ohne große Überzeugung. ,,Nun ja, es ist nun mal polnisch-tschechische Tradition, etwas worauf man stolz sein kann und -''
,, ... du kannst ohne die Firmung nicht heiraten.'', beendete mein Vater den Satz und meine Mutter sah ihn aus schmalen Augen an. Er hatte ihr den Satz geklaut.
Manchmal waren die beiden zu niedlich.
,,Ja, aber ... Das wird so kacklangweilig! Kann ich nicht wenigstens meinen MP3-Player mitnehmen oder ...?''
,,Es ist eine ernste und alte Sache, Dawid. Da darfst du dich nicht von ablenken.'', sagte Mom streng und wackelte mahnend mit dem Zeigefinger.
Nach einer Stunde Diskussion entschied ich mich schließlich dafür und unterschrieb den Brief, sodass Mum ihn schon heute zurückschicken konnte.
Ich hatte keine Lust auf dieses gesamte Religion-Gedöns. In Ordnung, ich hing an meiner tschechischen Herkunft, aber was Religion anging, war ich nun mal wie jeder andere Jugendliche: Für mich war so was weltfremd und total unnötig!
Aber es gehörte zur Kultur, ich würde nicht heiraten können ... und wer weiß, wenn Eli dabei war und vielleicht sonst noch irgendwelche Menschen, die ich von früher kannte ...?

Abends lag ich in Boxershorts in meinem Bett und spielte World Of Warcraft auf dem Laptop. Dann surfte ich zu Facebook und hinterließ auf der Pinnwand: Am 13. Januar, Firmtreffen. Wer hat keinen Bock drauf?!
In weniger als zwei Minuten hatte ich dreizehn Likes.
Ich checkte, von wem sie waren. Leute, die ich aus der Grundschule oder von Partys kannte, Eli und ... Nina.
Tzzz, dabei hatte die Letztgenannte nicht mal Firmung. Musste sich ja auch in alles einmischen, die Hübsche.
Da fiel mir ein, was sie über ihre bevorstehende Party gesagt hatte. Dass ihre BF kommen würde, Oliwia.
Wie war es überhaupt möglich, dass Miss Ober-Populär sich mit dem damaligen Außenseiter der Schule zusammentat? Hatte sie bloß Mitleid und beschlossen, Mutter Theresa zu spielen, oder mochte sie Oliwia wirklich?
Ich gab aus Neugier Oliwias Vor- und Nachnamen in Facebook ein und wartete erwartungsvoll. 
Null Treffer.
Ich versuchte es nochmal unter Ninas Freunden, aber schon nachdem ich Oli eingegeben hatte, ergab die Suche keine Treffer.
Etwas enttäuscht schaltete ich den PC aus. Es war eigentlich kaum verwunderlich, dass sie kein Facebook hatte. Sie war nie Fan von großen Massen, schätze ich.
Genau um Mitternacht ging ich schlafen.
Das letzte, woran ich dachte, war Ninas hinterhältiger Blick. 
Falsche Freundschaft, nur zum Spaß.
Ich hasste sie und trotzdem ging ich zu ihrer Party.

Die Krankheit des Pervers-Seins.


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Übrigens, die Kurzbeschreibung zu dieser Geschichte ist folgende:
,,Sie sieht aus wie ein Freak. Ein Freak, der überhaupt nichts fühlt.''
,,Er verhält sich wie ein dämlicher Arsch. Hat sich irgendwie kaum verändert seit der Grundschule.''
Doch, wir beide haben uns verdammt verändert.
Jeder katholische Mensch muss irgendwann durch die Zeit der Firmung gehen. Beinahe ein halbes Jahr Labern über Selbstfindung, was im Leben wirklich wichtig ist, und Gott natürlich.
Gähn, finden die meisten Kids, die daran teilnehmen müssen.
Die beiden Ausländer Oliwia Stanowski und Dawid Nowak sind zwei solche Jugendliche. 
Seit der Grundschule haben sie sich nicht mehr gesehen, und jetzt führt die Firmung sie wieder zueinander. Inzwischen haben beide viel durchgemacht und versuchen ihr Bestes, sich nicht völlig davon begraben zu lassen. 
Und irgendwie helfen ihnen diese Firmtreffen, wieder zu sich selbst zu finden.
Und sie gegenseitig helfen sich nach einiger Zeit auch.

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