Sonntag, 20. Juli 2014

♥Ein Tempel aus Blasen und losen Brettern♥

Wisst ihr, was ich am Kindsein so sehr vermisse? Man hat alles für möglich gehalten. Und rein theoretisch ist auch alles möglich - außer, dass etwas ewig währt. Alles, was unser Herz ausfüllt, verlässt uns irgendwann, ob freiwillig oder unfreiwillig. Das treuherzige Haustier stirbt. Spielzeuge gehen kaputt.


Freundschaften gehen in die Brüche.


Auf meiner Fensterbank stehen zwei Fotos, die ich gerade betrachte. 
Beide wurden vor acht bis sechs Jahren aufgenommen, besitzen nicht dieselbe Qualität von Fotos, die heutzutage gilt, und bearbeitet sind sie auch nicht. Manch einer würde sie für hässlich halten, aber bis vor einigen Monaten noch habe ich diese Bilder mit einem wehmütigen Lächeln betrachtet und zärtlich über das Glas gestrichen, das sie innerhalb des Bilderrahmens hält. Dieses Lächeln sagte aus, dass ich etwas vermisse, dass ich mir wünsche, ich könnte wieder so eine Situation mit der Kamera verewigen. Und in diesem Moment verlor das Lächeln die Wehmut, denn ich glaubte zu wissen, dass es so sein würde. Dass es nicht bei diesen Momentaufnahmen bleiben würde, dass weitere folgten und ich meine Fotoalben mit Erinnerungen daran füllen könnte.
Auf diesen Bildern sind keine Landschaften zu sehen, die ich bereist habe, und es sind auch keine professionellen Selfies, wie man sie heutzutage auf Internetportalen oder auf den Handys der heutigen Generation findet.
Eines davon ist eine Momentaufnahme, ein anderes ein typisches Foto, für das man posiert und den Teil seiner Selbst darstellt, die man als seine Schokoladenseite erachtet.
Auf der Momentaufnahme sind vier Kinder zu sehen, drei Mädchen, ein Junge. Alle liegen sie auf dem Boden, haben die Münder lachend aufgerissen und ringen miteinander. Die Mädchen liegen nebeneinander, eines ist zehn, das andere sieben und ein weiteres zwei Jahre alt. Sie haben die Arme umeinander geschlungen und sind von einer großen Bettdecke verdeckt; der Junge hat sich quer über die Bäuche der Mädchen ausgestreckt und schaut grinsend ins Objektiv der Kamera, glücklich darüber, dass die Mädchen wegen seinem Gewicht nicht dazu in der Lage sind, aufzustehen. 
Das zweite Foto ist älter. Dort sitzen die ersten beiden Mädchen im zuvor erwähnten Foto auf einer Couch in irgendeinem Wohnzimmer, das es auf dieser Welt gibt. Beide Mädchen berühren sich nicht, sehen aber beide sehr selbstzufrieden aus, eins mehr als das andere. Diejenige, die mehr Zufriedenheit ausstrahlt, hat die Hände über der Brust verschränkt und grinst in die Kamera, ihre Sitznachbarin sitzt in einer ähnlich lockeren Haltung neben dem älteren Mädchen, hat jedoch ein gezwungeneres Lächeln ins Gesicht gemeißelt und hat die Hände in den Schoß gefaltet, während sie mit ihnen spielt. Auf dem Boden nahe der Couch sieht man, worauf die beiden Freundinnen ihre Beine abgestützt haben: Einem Jungen in ihrem Alter, der auf dem Rücken liegt, den Kopf in einem merkwürdigen Winkel, die Zunge hängt ihm aus dem Mund. Eine ziemlich überzeugende Imitation eines Toten.

Die Parallele zwischen den Bildern? Zwei Mädchen, die sich auf oberflächliche Art und Weise verdammt ähnlich sehen. Braunhaarig, blauäugig, etwas fülligere Statur. Und anscheinend unzertrennlich. Innerhalb der drei Jahre, die zwischen den Bildern liegen, muss sich die Bindung zwischen den beiden gefestigt haben. Aus Nebeneinander-Sitzen wurde Im-Arm-Halten, aus Lächeln wurde Grinsen, aus Blutsverwandtschaft wurde Freundschaft.

Eine Freundschaft, die beide für unerschütterlich hielten. Wie aus Marmor gemeißelt, durch nichts zu zertrümmern. Ewig während.

Die Zeit lehrte sie, dass es nicht so ist. 



Ihre Freundschaft ist das zerbrechlichste gewesen, was die beiden erleben konnten. Und doch hielt es fast ihr gesamtes Leben lang an, als hinge nicht alles, was diese Freundschaft ausmachte, am seidenen Faden, der nur darauf wartet, durchtrennt zu werden. Aber er hält noch ... der Faden zerreißt nicht, sondern bindet diese zwei Mädchen hartnäckig und stur aneinander - die Frage ist: Wodurch kriegt dieser Faden seine ungewöhnliche Stärke? Zieht eines der Mädchen so stark an dem Faden, dass die andere ihn nicht loslassen kann? Will diese andere derjenigen, die an dem Faden zieht, den Fall, der eintreten würde, wenn eine der beiden losließe, zumuten? Oder gibt es jemanden, der die beiden mit diesem hauchdünnen Faden aneinander gebunden, sie zu siamesischen Zwillingen gemacht hat und so fest an beiden Enden des Fadens zieht, dass die Mädchen keine Kraft mehr haben, gegen diesen äußeren Einfluss, der ihrer Brust den Atem raubt, anzukämpfen?

So ähnlich sich diese Mädchen sahen, so ähnlich versuchten sie einander zu sein. Ich weiß noch, dass es bei der jüngeren anfing, dem Mädchen, das auf dem gestellten Foto dieses nervöse Lächeln im Gesicht hat. Imitation der Gesten, der Sprechweise, der Anziehsachen waren nur einige der vielen Nachahmungsversuche, die dieses Mädchen tagein, tagaus demonstrierte. Sie folgte mir überall hin, wollte, dass sie bemerkte, dass sie sich so benahm wie ich. Wenn wir gefragt wurden, ob wir was essen oder trinken wollten, versuchte sie, im gleichen Moment zu antworten wie ich. Natürlich gelang ihr das niemals vollkommen; es sei denn, wir waren mal einer Meinung. Aber da sie nie wusste, wie meine Antwort ausfiel, kam ihre Antwort immer eine Millisekunde später als meine. Sie erntete von mir meistens einen verwirrten Blick. Ich konnte nicht nachvollziehen, warum sie sich so verhielt oder warum sie mir ständig hinterherlief. Ein Schatten, der mich zu verschlingen drohte. Eine Zecke, die, egal wie sehr ich auch an der Stelle kratzte, an der sie sich an mir festgesaugt hatte, nicht auch nur eine Sekunde an Kraft und Sturheit nachließ.
Ich will ehrlich sein: Ich mochte dieses Mädchen nicht. Sie ging mir auf die Nerven. Sie stahl mir meine Privatsphäre. Sie nahm sich Teile von mir heraus und schmierte sie sich auf ihren Körper, als seien meine Charakterzüge und Gesten ein Desinfektionsmittel. Wovor wolltest du dich denn so sehr schützen? Jemandes Meinung? Meiner Meinung? Meiner Abweisung? Der Tatsache, dass ich dich nicht mochte, egal wie sehr du auch versuchtest, mich zu kopieren?
Es wurde zu einem kranken Spiel mit einer unfreiwilligen Teilnehmerin.
Wollt ihr die Spielregeln wissen, die dieses kleine Mädchen aufstellte?
Ich musste mit ihr spielen. Ich musste sie überallhin mitnehmen. Ich musste ihr Privilegien verschaffen, die ich hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Wenn ich ganz gemein bin, dann lautete auch eine der Spielregeln, dass ich sie ertragen musste.
Und wenn ich gegen diese Regeln verstieß, dann wusste das clevere Ding sich zu helfen, und zwar auf eine jämmerliche und feige Weise: Petzen. Mich als gemein darstellen. Meinen Eltern erzählen, dass ich ihr schlimme Dinge angetan hätte, obwohl ich nie die Hand gegen sie erhoben oder ihr ausdrücklich meine Meinung mitgeteilt habe.
Es war ein Teufelskreis, in den sie mich getrieben hatte. Entweder ich spielte mit oder ich bekam eine Strafe. Denn der jüngeren Spielkameradin von zweien glaubte man doch immer. Sind Erwachsene wirklich so naiv und glauben, jüngere Kinder könnten nicht lügen? In meinem Fall wohl schon.

Teufelskreis. Imitationen (aus Obsession?). Schatten. Zwang. Lügen.
Der Grundstein unserer Beziehung. Ein sehr zerbrechliches Grundnetz.
Doch wisst ihr, was das Tückische an einem Teufelskreis wie diesem ist? So sehr man auch herauskommen möchte - man gewöhnt sich mit den Jahren daran oder man glaubt selbst das Vorspielen falscher Tatsachen.
Wann begann ich, dieses Mädchen zu mögen? Warum begann ich dieses Mädchen zu mögen? Was war der zweite Grundstein unserer Beziehung?
Exklusion.
Wie begann das?
Nun, damals waren Jungs noch doof. Auch unser gemeinsamer, etwa sieben Jahre älterer Cousin, der die Grillparty, eigens organisiert von unseren Eltern, auf der wir waren, ebenfalls anwesend war. Wie sich das eben gehört, ärgerte er uns. Spielte mit unseren Haaren. Kitzelte uns. Spritzte uns Wasser ins Gesicht.
Doch zwei kleine Mädchen ließen sich das nicht gefallen.
Wir jagten ihn über den halben Garten, und als wir ihn einholten und unsere dicklichen Patschehändchen nach seinem Pullover griffen, um ihn davon abzuhalten, auch nur einen Schritt weiterzugehen, wand er sich aus unseren Griffen, indem er sich das Oberteil auszog, und letztlich über den Zaun sprang und verschwand.
,,Mist! Über den Zaun kommen wir nie!'', rief sie. Schweiß perlte an ihrer Stirn hinab, glitt über ihren Hals und hinterließ schließlich einen Fleck auf ihrem T-Shirt.
Ich grinste und starrte den schwarzen Pullover in meiner Hand an. ,,Muss nicht heißen, dass er davonkommt mit seiner Blödheit.''
Sie sah mich verwirrt an, und ich schwenkte den Pullover hin und her ... und sie erwiderte mein gemeines, tückisches Lächeln.
Als unser Cousin zurückkam, gingen wir lächelnd auf ihn zu und reichten ihm seinen Pullover. Voller Schlamm, Stroh und Ausscheidungen der Hühner, die über den Hof liefen und fröhlich vor sich hin gackernd nach Körnern suchten. Der Gesichtsausdruck unseres Cousins war urkomisch und seine Frustration darüber, dass er nun dazu verdammt war, ohne Oberteil herumzulaufen, bis er wieder nach Hause fahren konnte, zum Brüllen.
Ab diesem Moment folgte ein unausgesprochener Bund zwischen mir und diesem Mädchen. Ein Bund, der meine Bedenken ihr gegenüber fast austrieb.
Die zuvor erwähnte Exklusion folgte nur einige Monate nach dieser gemeinsamen Vergeltungsoperation. Wir schlenderten nun als Team durch die Straßen, Musik laut aufgedreht, Getränke in der Hand, lautem und fröhlichem - und wenn ich heute daran zurückdenke, affektiertem - Lachen folgte hysterisches Kichern, wenn wir jemandem über den Weg liefen, den wir nicht mochten.
Wir gehörten beide nicht wirklich zu irgendeiner Gruppe dazu, hatten wenige bis keine Freunde. Wir waren von den ,normalen' Kindern ausgeschlossen. Doch musste das sein? Nein. Also drehten wir den Spieß um: Wir waren diejenigen, die normal waren, und sie diejenigen, die von unserer Zweiergesellschaft ausgeschlossen waren. Wir fühlten eine Macht, die wir uns selbst ausgedacht hatten, ja - aber es fühlte sich dennoch echt an und hinterließ ein pulsierendes, köstliches Gefühl, das sich überzeugend real anfühlte.
Es war eine Freundschaft, die stereotypischer nicht sein konnte.
Was verband uns?
Gemeinsame Ausflüge mit der Familie.
Gemeinsame Sympathien bezüglich gewissen Personen.
Gemeinsame feindliche oder zynische Einstellungen gegenüber Mädchen und Jungen.
Gerüchte, die wir uns selbst aus den Fingern saugten, und über einige Dörfer verbreiteten.
Überheblichkeit bezüglich aller, die auch nur mit uns redeten.
Lügen. Vor allem Lügen. Wenn man nichts Skandalöses zu erzählen hatte, musste man sich eben etwas ausdenken.

Wisst ihr, während ich das schreibe, steigt in mir ein Gefühl der Scham und Empörung hoch.
Lange Zeit habe ich nicht gemerkt und nicht darüber nachgedacht, worauf unsere Bindung aufbaut. Vielleicht habe ich auch nicht darüber nachdenken wollen. Aber jetzt bin ich älter (sowohl physisch als auch psychisch) ... hinterfrage viel mehr als früher ... möchte mich selbst verstehen. Möchte meine Beziehungen zu gewissen Menschen verstehen, die ich als meine Nächsten bezeichne.
Und die Wahrheit ist ... all das, was ich hier beschrieben habe, ist eine lebende Lüge. Ein Paradies, das ich mir selbst aufgebaut habe, um mich sicher zu fühlen, um mir selbst das Gefühl zu geben, dass mit mir alles in Ordnung ist. Ich errichtete mir einen Tempel, denn für mich hatte diese Freundschaft einen so großen Stellenwert wie die Götter für die damaligen Griechen. Es war ein heiliger, übermenschlicher Ort für mich. Ich dachte, ich hätte ihn aus Zement, Marmor, Stein, schwer zu zerstörenden Stoffen zusammengezimmert - ein Zuhause gebaut, das mich für unwahrscheinlich lange Zeit bergen konnte. Erst jetzt sehe ich, dass all diese Steine, die den Tempel bilden, alles andere als stabil sind. Die Säulen bestehen aus vier Brettern, die nicht mal eine Säule bilden. Ich klopfe gegen sie, höre und ertaste den Hohlraum darin. Ich bewege eines der Bretter, und eine Seifenblase findet ihren Weg nach draußen, groß, zerbrechlich, stumm, getragen von der Luft. Ich greife nach ihr, bevor sie wegfliegen kann ... doch kaum berühren meine Finger sie, zerplatzt sie.
Welch ein glorreicher Tempel das ist. Errichtet aus losen Brettern, in deren Zwischenräumen Schwärme von Blubberblasen gefangen sind, die an die frische Luft wollen, nicht länger Fundament dieses heiligen Ortes sein wollen.
Was für ein schlechter Witz.
Menschen können sich selbst am besten belügen, das ist mir vollkommen bewusst.
Aber ihr wisst gar nicht, wie aufgebracht ich bin.
Ich habe mich selbst in eine Person zu wandeln versucht, die ich nicht bin. Ich bin keine Diva, die herumläuft und Menschen, die sie nicht kennt, Loser nennt oder hinter ihrem Rücken beleidigt. Ich bin keine Attention Whore, die allen zeigen muss, wie toll sie ist und sich mit irgendeinem Besitz profilieren muss.
Ich war so etwas nie, und dennoch habe ich mich so verhalten.
Aus dem simplen, dummen Grund, weil ich diesem Mädchen gefallen wollte.
Die Rollen haben sich in gewisser Weise ... nicht umgetauscht. Aber verändert.
Ich wollte diese Kleine irgendwie bei Laune halten, denn ich habe mich daran gewöhnt, dass sie in mir jemanden sieht, der so toll ist, dass er kopiert werden muss, dass sie so sein muss wie ich. Jemand, der einen Klon verdient. Und ich war allein ... so allein. Ich hatte niemandes Aufmerksamkeit außer die ihrige. Und diese zu verlieren würde mich eine Menge Tränen kosten.
Also spielte ich das, was sie als beste Freundin wollte. Eine vermaledeite, stereotypische High-School-Queen. Eine Rolle, die ich hasste, und die zur gleichen Zeit die Rolle meines Lebens war.
Ich hatte eine ganze Weile angenommen, das Mädchen sei ebenfalls nur in eine Rolle vertieft, die sie selbst nicht war, kein bisschen. Vielleicht las sie auch viel, wie ich es tat, vielleicht taten ihr die Leute, über die sie insgeheim lästerte, auch Leid, so wie mir. Vielleicht wollte sie so nicht sein.
Doch jetzt ... jetzt sehe ich, dass sie tatsächlich so ist. Sie verhält sich so, ohne es erzwingen zu machen. Das ist ihr wahres Ich.

Ich kann es noch immer nicht so recht glauben.
Ich dachte, es sei ein Spiel. Ein Spiel, das ich aufhören wollte zu spielen, weil es gegen meine Moral ist. Weil mein wahres Ich nun stark genug ist, diese Rolle zu verdrängen und nichts anderes möchte als leben. Weil ich eingesehen habe, dass ich nie dieses Ungetüm gewesen bin und ICH besser bin als so etwas.
Doch für sie ... für sie ist dieses Spiel noch immer bitterer Ernst.
Noch immer spielt sie mich, noch immer will sie so sein wie mein gespieltes Ich. Sie will immer noch Teil der Exklusive sein, die uns ein Machtgefühl und Kontrolle schenkte über Dinge, die nicht real sind und es auch niemals waren.
Das, was neu dazugekommen ist, ist der Druck des Statussymbols Freund.
Ich mag dieses Wort nicht. Freund klingt nicht ernst. Freund klingt nicht wie etwas Andauerndes. Freund klingt flüchtig, distanziert, zu alltäglich.
Wenn mich jemand fragt, ob ich mit jemandem zusammen bin, sage ich Partner. Weil der Mann, der der meine ist, mich in jeder Lebenssituation unterstützt, mich zum Lachen bringt, mich versteht und mir ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Richtigkeit gibt, das ich mein ganzes Leben nicht gespürt habe. Und dasselbe, so sagt er, schenke ich auch ihm.
Partner ist kein Statussymbol. Partner ist nichts, womit man sich profiliert.
Doch aus irgendeinem Grund will dieses Mädchen glauben, dass ich deswegen eine Beziehung habe. Um damit anzugeben. Um eine zu haben.
Dass ich dieselben Gründe habe wie sie. Dass ich ihre ,,Beziehungen'' (zweitägige Bekanntschaften, die aus Facebook-Chats entstehen und sich zwischen ihr und einem Jungen entwickeln, mit dem sie höchstens eine Stunde, bevor sie ein ,,Paar'' wurden, das erste Mal ein Wort gewechselt hat) nicht ernst nehme und auch kein übermäßiges Interesse daran zeige, weil ich ihr nicht den Gefallen tun will, ihr Bewunderung dafür entgegenzubringen, dass sie zwanghaft auf der Suche nach etwas ist, was sie herumzeigen kann wie eine Trophäe und sich dabei an jeden Strohalm klammert, der sich anbietet; anscheinend steigt ihre Popularität mit diesem Schwachsinn ... oder zumindest ist dies - steigende Popularität - das, was sie dazu antreibt, in jedem Jungen, der ihr nur einen Blick schenkt, die große Liebe zu sehen.
Was hat das Mädchen behauptet?
Du bist doch nur neidisch, weil mein Freund hübscher ist als deiner.
Ich lächle gerade zynisch und fahre mit meinem Zeigefinger über ihre Stirn auf dem älteren Foto ... lege meinen Daumen auf ihr Gesicht, um sie nicht länger ansehen zu müssen.

Ich schäme mich dafür. Wirklich.
Diese Blubberblasenfreundschaft hielt so viele Jahre, Jahre voller Ausflüge, gemeinsamem Sonnen, gemeinsamen Partien Volleyball, gemeinsamem Babysitting. Telefonate, Übernachtungen. Noch vor einem Jahr habe ich darin so viel gesehen. Einen Berg an Ereignissen, der unseren Tempel nur noch festigte.
Was war ich doch für eine Idiotin.
Nichts an diesem Tempel, an diesem Monument aus Seifenblasen und losen Brettern, war je stabil. Diese Welt, die wir uns gemeinsam aufgebaut haben, war niemals echt. Ihre Echtheit ist genauso berauschend gewesen wie ein Drogentrip, doch kam man zur Vernunft und konnte seinen Verstand wieder nutzen - wie es jetzt bei mir der Fall ist -, dann ist da nur noch eine schwächliche, verschwommene Erinnerung an dieses Hochgefühl. Man fühlt sich betrogen, weil der Moment vorbei ist. Man fühlt sich aufgeschmissen, weil die Realität seine Klauen in deine Schultern gräbt und dir ins Ohr haucht, wie dumm du gewesen bist.
Ich will nicht mehr abhängig sein von Brettern und Seifenblasen. Ich will in keinem Tempel hausen, der nur Personen einlässt, die freiwillig und voller Ekstase eine Maske tragen, die das wahre Gesicht, das sie verbirgt, langsam auffrisst, das Fleisch zerfetzt, die Augen aus den Augenhöhlen zieht, die Zunge herausreißt und seine eigene hineinschiebt ... und sobald der Prozess vollendet ist, ist die Maske keine Maske mehr, sondern ein Gesicht. Eine reale Person.
Wäre ich nicht zeitig hinter das Geheimnis des Tempels gekommen und hätte ihn erst zögernd, und dann schnurstracks verlassen, so wäre mein Gesicht gefressen worden. Ich schaue in den Spiegel. Praktisch unversehrt. Ich muss eine sehr dicke Haut haben.
Dennoch sucht mich meine Maske ab und an heim. Schwebt vor mir und will sich auf mich pressen. Versucht mich mit ihrem hypnotischen Blick schwerfällig und müde zu machen, bis sie sich wieder an meine Haut pressen kann - doch dagegen werde ich von Tag zu Tag resistenter. Mich zu verführen ist ein Risiko, das Masken und Maskierte immer weniger in Kauf nehmen wollen. Sie fürchten sich vor mir. Ich kann sie in die Flucht schlagen, ohne auch nur zu kämpfen, denn mein Kampf war in dem Moment gewonnen, als ich einen Schlussstrich zog.
Doch das Mädchen will in diesem Tempel bleiben, ihre Maske hat so viel ihres wahren Gesichts verschlungen, dass es ohne die Maske nicht mehr sehen und hören kann. Nur zum Riechen ist es noch imstande. Doch was nützt ihm der Geruchssinn? Er zeigt keine Lügen, er erzählt keine Wahrheiten. Das Mädchen ist nicht lebensfähig ohne die Maske, und würde sie ihr Heiligtum verlassen, würde ihr neues Gesicht zerbröseln und in Scherben zu Boden fallen. Zum Vorschein käme eine junge Frau, die Würmer in ihren Augenhöhlen und Ohren besitzt, Larven, die ihre Nasenlöcher verstopfen, und zahnlose Kiefer, die ihr die Fähigkeit des Sprechens verweigern. Sie hat einen losen Faden um ihre Hüften gebunden, ein endlos langer, der auch um meine Hüfte gebunden ist. Nach mir greifen kann sie nicht mehr, dazu bin ich zu weit weg, aber dieser Faden hält mich davon ab, ihr und diesem zum Einsturz verdammten Tempel zu entrinnen.
Ein so hauchdünner Faden ... warum will ich ihn nicht zerstören? Warum will ich mich nicht befreien?
Weil der Tempel ohne mich zerstört würde. Weil ich damit das Todesurteil dieses Mädchens unterzeichnet hätte. Weil die Seifenblasen dann in alle Richtungen strömen könnten und niemandem mehr Schutz böten.

Welcher Drang wird stärker sein?
Der zu schützen oder zu befreien?


Ich nehme beide Bilder in die Hand und schaue sie mit zusammengepressten Lippen an.
Schließlich tue ich das einzige, was mir nicht brutal und auch nicht zu sanft erscheint.
Ich drehe die Bilder so, dass sie mir ihren Rücken zugewandt haben. So, dass ich meine zerbröckelnde Freundschaft nicht sehen muss. So, dass ich in der Lage bin, neutrale Entscheidungen zu treffen.

,,Wir waren nie befreundet.'', murmele ich. ,,Es tut mir Leid.''





CU
Sana

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