Grundwissen:
♥Titel♥: Dachdecker wollte ich eh nicht werden - Das Leben aus der Rollstuhlperspektive
♥Autor/-in♥: Raúl Aguayo-Krauthausen; Marion Appelt
♥Erschienen♥: Januar 2014 im rowohlt-Verlag (broschiert)
♥Seitenanzahl♥: 250 Seiten (ohne Nachwort und Danksagung)
♥Preis♥: 14, 99 € (broschiert)
♥Genre♥: Non-Fiction; Autobiographie; Tabuthemen
Inhalt:
Nur weil ein Mensch eine Behinderung hat, muss er sie nicht in den Mittelpunkt stellen. Die Persönlichkeit und nicht der Rollstuhl, in dem jemand sitzt, sollte gesehen werden. - Raúl Aguayo-Krauthausen (S. 175)
Der 37-jährige Raúl lebt in einer glücklichen Beziehung, ist der Gründer des Vereins der Sozialhelden und der Führer der Talkshow Krauthausen - Face to Face. Eigentlich ein Leben, das wohl jeder als sehr erfolgreich ansehen würde. Doch eine Bürde trägt er aus der Sicht vieler: seit seiner Geburt sitzt er wegen seiner Glasknochen im Rollstuhl. Ein Grund für viele, ihm mitleidige Blicke zuzuwerfen trotz all seiner Erfolge. Warum das nicht notwendig ist und warum eine Behinderung nicht mehr Charaktereigenschaft ist als alles andere auch, erklärt der Berliner in diesem Buch.
Meine Meinung ...
zum Cover:
Originalcover: ♥♥♥♥ |
Das Cover mag zwar schlicht und für eine (Auto)Biographie typisch sein, allerdings ist der Titel definitiv auffallend und deutet auf Raúls Sichtweise auf das ganze Thema hin. Kein Augenschmaus, aber auf jeden Fall passend.
zum Buch:
Für die meisten Menschen bedeutet das Wort ,,Behinderung'' gleich ein Stop-Schild für alles, was das Leben lebenswert macht. Nicht nur gibt es Menschen, die, egal wie klein die Behinderung ausfällt, augenblicklich Mitleid haben und es nicht mal wagen, das Wort ,,behindert'' in den Mund zu nehmen, auch gibt es diejenigen, die sich von Behinderten fernhalten, als sei ihre Anomalie ansteckend. Doch dann von jemandem wie Raúl Aguayo-Krauthausen zu hören, der sich so sehr für diese Gesellschaftsschicht einsetzt und der es selbst so weit gebracht hat, zeigt genau das, was der Autor in seiner Biographie auch zeigen will: Eine Behinderung ist nicht das Ende der Welt. Im Gegenteil, sie ist genauso eine Eigenschaft einer Person, wie es bei anderen die Haut- oder Augenfarbe ist. Und manchmal bringt sie sogar Vorteile.
Deswegen ist alleine die Existenz dieses Buches ein Symbol für den Fortschritt unserer Gesellschaft, Inklusion zuzulassen und Behinderungen weniger argwöhnisch oder sensationsgeil zu betrachten. Nicht nur erzählt er von seinem eigenen Leben mit Glasknochen, auch macht er auf Missstände aufmerksam, die Menschen mit Behinderungen das Leben unnötig schwer machen. Diese Bemerkungen sind es auch, die für den Leser ein Augenöffner sind, denn wer denkt schon daran, dass viele Leute im Rollstuhl ein Café nicht werden betreten können, weil es Stufen hat? Wer ohne Augenlicht denkt daran, dass diese großen Übersichtskarten in Einkaufszentren vollkommen nutzlos sind für diejenigen, die nur Blindenschrift lesen können? Dass Alltagssituationen dadurch sehr verkompliziert werden, obwohl sie mit ein wenig Mitdenken hätten zugänglich sein können, lässt den Leser einen anderen Blick auf seine Heimatstadt oder sein Heimatdorf bekommen. Man lässt Standorte Revue passieren und fragt sich, was davon behindertengerecht ist. Ist man schon Dutzende Male an einer solchen Stelle vorbeigelaufen und hat es nie bemerkt? Dadurch, dass man als normaler Bürger kaum auf solche Menschen trifft, ist das kaum überraschend, weswegen Aguayo-Krauthausen schafft, den Leser zum Nachdenken anzuregen. Wäre es nicht möglich, ein größeres Miteinander zu erschaffen?
Raúl auf jeden Fall ist eine Persönlichkeit, die einen dazu inspirieren kann, dabei mitzuwirken. In jungen Jahren hat er schon so viel geschafft - ein Highlight davon beispielsweise die WheelChair-Map, die anzeigt, welche Ortschaften rollstuhlgerecht sind - und setzt sich weiterhin für diese Minderheit ein. Schön daran ist, dass Raúl den größten Teil seiner Biographie damit zubringt, sich als Behinderten zu beschreiben, der am liebsten verdrängte, dass er im Rollstuhl sitzt, und sich oft als Bürde für andere fühlte. Zwar hätte er mehr Kapitel schreiben können, in denen die Entwicklung von seiner damaligen zur heutigen Person klarwird, jedoch muss man ihn für diese Ehrlichkeit wertschätzen. Es zeigt, dass man nicht jeden Tag stark genug ist, um sich vollständig zu akzeptieren, dass das aber vollkommen normal ist und nicht schlimm, solange man wieder aufsteht. Man kann seine Bedenken nachvollziehen, vor allem weil er viel aus seinem sozialen Umfeld beschreibt. Wie er anfangs nur seine Freunde als Zivis einstellt, weil es ihm peinlich ist, sich von anderen tragen zu lassen, wie eine Freundin von ihm zögert, mit ihm Armdrücken zu spielen, weil er sich so leicht etwas brechen könnte - all das bringt einen dazu, sich ihm unglaublich nahe zu fühlen. Gleichzeitig schafft er es, dass man aber trotzdem kein Mitleid mit ihm hat. Wie Roger Willemsen in seinem Vorwort zu diesem Buch sagt: ,,In dieser Arbeit wirft er seine Erfolge in die Waagschale - und das ist nun einmal die eines Menschen, der im Rollstuhl sitzt, seine Einschränkungen erlebt und damit fertig wird. Basta. Kein Bedauern gefordert, keine Stilisierung erwünscht.'' (S. 10)
Episodenhaft erzählt er von Alltagsschwierigkeiten, von der Grundschule bis zum Erwachsenenalter, zeigt sowohl starke und schwache Momente auf und reflektiert sich selbst. Themen wie soziale Ausgrenzung, Liebe, aber auch der Vorteil und Nachteil des Angewiesenseins auf andere geben dem Buch eine sehr große emotionale Bandbreite. Gleichzeitig aber achtet der Autor darauf, dass sich nicht alles um seine Behinderung dreht. Auch beschreibt er das Gefühl der Abnabelung von seiner Mutter, als er seine erste eigene Wohnung bezieht, und auch den Aufbau einiger Freundschaften, die bis heute andauern. Damit zeigt er, dass er diese Biographie nicht schreibt, um sich als Behinderter auszuweisen, sondern um zu zeigen, dass der Rollstuhl nicht sein Leben ausmacht.
Dennoch gibt es ein paar kleine Dinge, die man an Dachdecker wollte ich eh nicht werden aussetzen kann. Der Humor, für den der gute Mann bekannt ist und den der Titel suggeriert, ist im Buch eher weniger präsent. Ein paar Mal muss man zwar schmunzeln, aber wirklich humorvoll oder witzig wird mit dem Thema - meines Erachtens - nicht umgegangen; da Humor jedoch Geschmackssache ist, muss das nichts Schlechtes sein. Was eher enttäuschend ist, ist der Mangel an Beschreibungen. Man merkt eindeutig, dass Raúl Aguayo-Krauthausen kein Autor ist und sich mit einigen Formulierungen recht schwertut. Deswegen ist der Stil ziemlich einfach und seine Geschichte recht holprig erzählt. Die Dialoge wirken hölzern, die Personen, die er beschreibt, recht eindimensional, und generell die Übergänge sehr dünn. Vor allem vermissen tut man die Entwicklung seines Bekanntheitsgrads, da er recht schnell mediale Reichweite bekommt, ihn das allerdings kaum zu beeindrucken scheint. Da hätten ein paar Seiten bzw. ein paar Erinnerungen mehr nicht geschadet, denn bis auf die Radiosendung, in der er mitwirkt, spürt man kaum sonst irgendwo wirklich Begeisterung oder Interesse. Das bricht sich auch in dem Aufeinandertreffen mit anderen Behinderten nieder, denn außer im letzten Kapitel wird der Dialog mit ihnen bzw. deren Ansichten auf Deutschland und wie das Land mit Behinderung umgeht, kaum angerissen. Dabei wäre doch genau das sinnvoll gewesen, wenn man seine Stimme für diese Schicht erhebt.
Ein Buch, dessen alleinige Existenz schon fünf Sterne wert ist. In nüchternem Ton werden Missstände im Umgang mit Behinderten dem Leser vor Augen geführt und er selbst dazu angeregt, etwas an dieser Situation zu ändern. Raúl Aguayo-Krauthausen selbst motiviert einen auch dazu, indem er von seinem Leben erzählt, das auch mit seiner Behinderung mehr als nur lebenswert für ihn ist. Nie wird auf die Tränendrüse gedrückt oder etwas überdramatisiert, nie nach Mitleid verlangt, sondern ungeschönt geschildert, wie es ist: manchmal anstrengend, manchmal auch frustrierend, aber alles in allem nicht niederdrückend, wenn man so eine Stärke aufbaut wie der Autor dieses Buches. Einzig und allein an der Art des Erzählens hätte man feilen können, weil es sich doch recht fragmentiert liest und vor allem der Austausch mit anderen Behinderten interessant hätte gewesen sein können.
Ich gebe dem Buch:
♥♥♥♥ Herzchen
Extra:
Wer einen Eindruck von Raúl bekommen möchte, der kann gerne einen Blick auf seinen gleichnamigen YouTube-Kanal werfen :3
CU
Sana
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