Samstag, 27. April 2019

:)Rezension:): Die Selbstmordschwestern | Die Obsession über Suizid

Grundwissen:


Titel♥: Die Selbstmordschwestern (original: The Virgin Suicides)
Autor/-in♥: Jeffrey Eugenides
Erschienen♥: 2005 im Rowohlt-Verlag; original 1993
Seitenanzahl♥: 256 Seiten
Preis♥: 9, 99 € (Taschenbuch und Kindle Edition) [Quelle: amazon.de]
Genre♥: Drama; Coming of Age; Moderner Klassiker



Quelle: © Rowohlt Verlag
Quelle: © Fourth Estate





















Inhalt:

''Added to their loveliness was a new mysterious suffering, perfectly silent, visible in the blue puffiness beneath their eyes or the way they would sometimes stop in midstride, look down, and shake their heads as though disagreeing with life.'' - p. 49


Die fünf Lisbon-Schwestern hatten schon immer eine faszinierende Wirkung auf die Nachbarschaft in ihrem kleinen Vorort. Wegen ihrer streng-religiösen Eltern sind sie selten unter Menschen und laden damit umso mehr dazu ein, die Leerstellen durch Spekulationen zu füllen. Doch nach dem Versuch der jüngsten Schwester, Cecilia, sich das Leben zu nehmen, werden die Gerüchte um die Lisbons umso lauter. Was kann ein dreizehnjähriges Mädchen zu so einer radikalen Entscheidung bewogen haben? Die Schwestern kommen immer weniger unter Menschen, und nach und nach folgt jedes in die Fußstapfen der jüngsten. Selbst noch Jahrzehnte nach den Beobachtungen der Erzähler in jungen Jahren versuchen sie es zusammenzupuzzeln: Was hat die Schwestern zum Suizid getrieben?



Meine Meinung ...




zum Buch:


Genauso wie Suizid ein Tabuthema ist, ist es ebenso ein Thema des Sensationalismus, und, wie Jeffrey Eugenides in Die Selbstmordschwestern darstellt, im Jugendalter häufig der Obsession. Denn kaum etwas könnte für einen jungen Menschen, der sein Leben erst vor sich hat, erschütternder sein und mehr Fragen aufwerfen als ein Gleichaltriger, der genau dieses junge Leben beendet. Zu Zeiten von Tumblr scheinen Depressivität, Selbstverletzung und der Suizid manchmal sogar regelrecht verherrlicht oder als Alleinstellungsmerkmal benutzt zu werden. Denn wer sich umbringt, der bleibt in Erinnerung, und sei es durch die unlösbare Frage nach den konkreten Auslösern für diese Handlung.


Glorifizierung von Außenseitern

Das stellt der Autor sehr gut in den Figuren der Lisbon-Schwestern dar, die man nur aus der Perspektive eines Wir-Erzählers kennenlernt. Dieser Wir-Erzähler ist kaum charakterisiert, man erfährt nur, dass es sich dabei um die Nachbarsjungen handelt, die von vorneherein unheimlich fasziniert sind von den fünf geheimnisvollen Töchtern zweier religiöser Einsiedler. Diese Faszination reicht so weit, dass die Erzähler sich ganze Charakterisierungen der Schwestern zurechtlegen und sie zu unberührten, reinen Wesen hochstilisieren, die nur auf eine Rettung vor ihren Eltern warten. Somit erfährt man genauso wenig über die Schwestern wie über die Erzähler an sich, und die einzigen Schlüsse, die man als Leser ziehen kann, sind diejenigen, die einem die Erzähler näherbringen wollen und wie der Leser sie aufnimmt.
Diese sind durchdrungen von Jugendlichkeit und sind mit Sicherheit nicht komplett an den Haaren herbeigezogen, entsprechen aber auch nicht vollständig der Wahrheit. Dies muss man auf jeden Fall im Kopf haben während man die Geschichte verfolgt, da man ansonsten die Mädchen als sehr oberflächlich charakterisieren könnte und als typische Jungfrauen in Nöten nervig finden könnte. Doch besonders an Lux, der drittältesten Schwester, die schon ganz zu Beginn als sehr hübsch und promiskuitiv beschrieben wird, erkennt man die Teenager-Hormone innerhalb der Wahrnehmung der Erzähler. Auf sie wird sich nach gewisser Zeit (leider) am meisten fokussiert, und das auf derart obszöne Weise, dass einen das Gefühl von Ekel gegenüber den Erzählern fasziniert und zugleich an seine eigene Denkweise als Jugendlicher erinnert. Es ist natürlich, das Geheimnisvolle ergründen zu und in die Privatsphäre anderer eindringen zu wollen, und seine Beweggründe dazu, besonders die langweilige Kleinstadt, nicht zu reflektieren. Spätestens als die Erzähler Lux bei ihrem Sex mit verschiedenen Männern mit einem Fernglas beobachten, sollte jedem Leser die Augen öffnen und entlarven, dass man während des Lesens genauso auf das Eindringen in das Privatleben der Mädchen fokussiert ist wie der Wir-Erzähler.
Doch genauso pervers erscheint einem der Medienrummel, der nach Cecilias Selbstmordversuch die Lisbon-Familie heimsucht. Vor dem Schutzmantel der Aufklärung über ein Tabuthema, werden die Mädchen als Beispiel zu einem nationalen Problem deklariert, und ihre Persönlichkeiten im Fernsehen verzerrt. Selbst der, in ihrer Wahrnehmung, gut informierten Wir-Erzähler behauptet, die Mädchen nie bestimmte Hobbies ausgeübt haben zu sehen und dass auch andere Details zugunsten des Dramas verdreht wurden.
Doch egal ob nun die Medien mit dramatischer Musik und mit in Tränen ausbrechenden Betroffenen oder die Wir-Erzähler mit ihrer Sammlung von ,,Beweisstücken'' - sogar in Form von Tampons -, die Glorifizierung der Frage um die Gründe nach dem Selbstmord bleibt und hängt wie ein zynischer Schleier über der Geschichte.


Symbolischer Verfall

Ebenso bemerkenswert ist die Atmosphäre, die Eugenides in seine Geschichte hineinschreibt. Man fühlt sich sofort in seine eigenen Sommer zurückversetzt, die heiß und trocken daherkommen und voller Kleinstadtgeheimnisse sind, die man aus einer Mischung aus Langeweile und Sensationsgeilheit herausfinden will. Es ist schwer dieses Gefühl von Jugend, Obsession, Jugend, Verzweiflung und (sexuellen) Fantasien so kompakt zusammenzufassen, und dennoch hat der Autor es wunderbar gemeistert und damit zugleich einen Spiegel für den Verfall des Lisbon-Haushalts hergestellt.
Zwar kann der Erzähler nicht das Innenleben der Schwestern genau beschreiben, doch die Fassade ihres Hauses und die Natur zeigen die Vernachlässigung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, die immer weiterwächst. Nicht nur bröckelt das Haus der Lisbons und ihr Garten überwuchert, auch viele tote Fliegen und das Hinterlassen von Bildern der Jungfrau Maria, die die Schwestern als Hilferuf in der Nachbarschaft hinterlassen, tun ihren Teil, um sich als Leser ganz im Geschehen zu fühlen. Für manch einen mag dies zu kitschig und bedeutungsschwanger sein, doch für diese Geschichte, die sowieso so voller Fragen ist, passt es perfekt hinein. 
Das Gleichgewicht zwischen diesem symbolischen Verfall und den unabdingbaren Tatsachen, etwa, dass die Lisbon-Schwestern nach gewissen Ereignissen nicht mehr das Haus verlassen dürfen und keinerlei Kontakt mehr zu Menschen haben als ihren Eltern, hat Eugenides ebenfalls gemeistert. Es werden gerade genug Andeutungen gestreut, dass der Leser gemeinsam mit dem Wir-Erzähler Theorien spinnen kann, wie es zu all den Restriktionen und der praktischen Gefangennahme innerhalb des eigenen Zuhauses kam. Besonders der Vater der Lisbon-Schwestern steht dabei im Vordergrund, da er als Lehrer an der städtischen Schule arbeitet und man auch an seiner Verfassung sehen kann, wie schwer ihm die Situation fällt. Ebenso klar ist der Zusammenhang mit der Religiösität der Familie, die besonders von der Mutter auszugehen scheint und die sie, ohne ihr Bewusstsein darüber, dazu zwingt, ihre Töchter von der gefährlichen, unorthodoxen Außenwelt zu isolieren. Doch die Beweggründe bleiben, wie auch bei den Schwestern, ein einziges Rätselraten - besonders am Ende.

Die Rache der Lisbons ... oder so

So wie alles an dieser Geschichte, ist das Ende und das Finale reine Interpretationssache. Doch wenn man schon als Leser so wütend auf die Obsession der Wir-Erzähler mit dem Lisbon-Fall ist und auch auf die Medien, die dieses individuelle Schicksal zu einem Fall degradieren und ausschlachten - wie wütend müssen dann erst die Mädchen sein?
Man weiß von vorneherein, dass sich die Geschwister das Leben nehmen werden, daher ist dies kein Spoiler, die Art, wie sie dies tun, zieht jedoch sowohl den Erzähler als auch ihre Eltern zur Rechenschaft, und das nicht gänzlich zu unrecht. Sicher wird die ,,Schuld'' anderer am Suizid eines Individuums heftig diskutiert, besonders seit der Verfilmung von Tote Mädchen lügen nicht, doch obwohl dieses Buch konkrete Gründe angibt und Die Selbstmordschwestern nicht, haben sie doch eine ähnliche Message: Das Verhalten anderer kann durchaus dazu beitragen, dass sich jemand in seinem Leben nicht mehr wohlfühlt. Und das auch, indem man sich übermäßig mit jemandem beschäftigt, ohne sich mit demjenigen konkret auseinanderzusetzen. Nicht zu fragen, nicht zu helfen, sondern seine eigenen Schlüsse zu ziehen und einen zum hilflosen Objekt zu degradieren und zum Gesprächsthema der Stadt. Zumindest könnte man dies so ansehen, wenn man die Erzähler reflektiert.
Diese tun dies selbst jedoch sogar am Ende des Buches nicht, weswegen es fragwürdig ist, ob Jeffrey Eugenides dies wirklich transportieren wollte. Vielleicht wollte er aber auch transportieren, dass Menschen, selbst in dem Bewusstsein, niemals Antworten auf alle Fragen finden zu können, es nicht lassen können, ihrer Neugierde wiederholt nachzugehen. Denn das Fazit des Erzählers, das der Grundstein des Suizids in Selbstsüchtigkeit liegt, kann einen nur zum Kopfschütteln bringen. Wie kann man selbst nach dem, wie die Lisbon-Schwestern den Erzähler benutzt haben, auf eine so einfache Antwort zurückgreifen?


The Virgin Suicides ist ein sehr besonderes Buch, das nicht jedem zusagen wird. Es spricht eine schwere Thematik an und behandelt sie aus genau der Sicht, wie die meisten Leser sie auch miterleben: aus der Distanz, voller Leerstellen und dem halbwegs sensationsgeilen Wunsch, hinter die Kulissen zu blicken. Es ist also kein Roman, den man ohne Einsatz seines Verstands lesen und in dem man die Erzählstimme einfach hinnehmen sollte. Doch genau diese Bücher sind für mich die schönsten: Diejenigen, bei denen einem während des Lesens der Kopf rattert und die einen dazu bringen, sich selbst zu reflektieren. Ist man genauso auf die Lisbons versessen wie der Erzähler? Hat man sich selbst schon eine Dokumentation zu einem Fall angesehen und die Darstellung nicht hinterfragt? Will man alle Beweggründe wissen, obwohl dies ein so individuelles Thema ist? Diese Nachdenklichkeit verbunden mit der toll eingesetzten Symbolik und Atmosphäre machen das Buch auf jeden Fall zu einem echten Erlebnis! Nur die fehlende Einsicht des Erzählers selbst hat das Ende etwas unbefriedigend gemacht. Dennoch ein tolles, kontroverses Buch!


Ich gebe dem Buch:

4/5 Punkten



CU
Sana

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