Freitag, 9. August 2019

Offline ist es nass, wenn es regnet | So viel Potential ...

[Rezension]


Grundwissen:



Titel: Offline ist es nass, wenn es regnet (original: The Other Side of Lost)
Autor/-in: Jessi Kirby
Erschienen: Januar 2019 im Loewe-Verlag; original 
Seitenanzahl: 331 Seiten ohne Danksagung
Preis: 14, 95 € (broschiert); 11, 99 € (Kindle Edition) [Quelle: amazon.de]
Genre: Contemporary; Adventure; Coming of Age; Young Adult; Middle Grade


Quelle: ©  Loewe Verlag



Inhalt:


,,Meine Gedanken waren so klar, dass ich das Gefühl hatte, sie zum ersten Mal zu hören. Endlich habe ich mir die Zeit genommen, mich selbst kennenzulernen und das Alleinsein zu genießen. Ohne Druck, etwas zu tun oder denken zu müssen, konnte ich einfach da sein.'' - Bri Young (S. 197)

Mari hat Tausende von Followern auf Instagram, und sie alle sind begeistert von ihrer tollen Figur, ihrer gesunden Ernährung und ihren inspirierenden Bildern und Botschaften. Doch Maris Leben hinter der Kamera sieht anders aus: Die Beziehung zu ihrem Freund ist gefaked für die Klicks und sobald sie ihr Essen abfotografiert hat, isst sie es nicht. An ihrem Geburtstag, der gleichzeitig der Todestag ihrer abenteuerlustigen Cousine Bri ist, hält sie dem Druck nicht mehr stand und will das Fake-Leben der sozialen Medien hinter sich lassen - und bekommt dazu die perfekte Gelegenheit durch das Geschenk ihrer Tante. Denn Bri hatte, obwohl sie und Mari schon seit Jahren wenig miteinander zu tun haben, für eine mehrwöchige Wanderung im Yosemite Nationalpark angemeldet und dazu alles Nötige vorbereitet. Jetzt braucht es nur noch Maris Mut, den Plan ihrer ehemals besten Freundin zu Ende zu führen und die Strecke für sie zu laufen - und dabei vielleicht herauszufinden, was sie vom Leben wirklich will.




Meine Meinung ...


zum Buch:


Offline ist es nass, wenn es regnet ist eine Neuerscheinung, auf die ungeduldig hingefiebert wurde und die auf sozialen Medien überwältigend gutes Feedback bekommen hat. Viele Leser fühlten sich inspiriert und berichteten, dass es in ihnen die Lust geweckt habe, selbst das Handy für eine Weile auszuschalten und die Welt um sich herum zu entdecken. Ebenso gab es Digital-Detox-Aktionen auf Instagram als Promotion für dieses Buch. Ein Setting in einem überwältigenden Naturell, Kritik an uns und unserer Selbstdefinierung durch Social Media, eine Wanderung zu sich selbst - das alles klingt nach dem perfekten Roman für einen warmen Sommer, dem idealen Contemporary-Buch.
Doch obwohl so viel Potential in diesem Jugendroman steckt, hat Jessi Kirby es doch nicht geschafft, ihre inspirierenden Gedanken in eine überzeugende Geschichte zu verpacken.

Ein Leben posieren

Kirby beginnt die Geschichte mit einer authentischen, traurigen und darin wunderbaren Beschreibung eines Influencer-Lebens. Mari ist zwar nicht so groß wie eine BibisBeautyPalace oder Pamela Reif hierzulande, allerdings groß genug, dass ihr diverse Firmen Kooperationen anbieten und sie täglich mehrere Bilder hochlädt, um ihre Follower bei Laune zu halten. Die Gedankenarbeit, die sie in jede Geste, jede Pose, jeden Winkel auf ihren Fotos legt, um sie danach stundenlang zu retuschieren, und das ohne jegliche Leidenschaft und Freude an der Sache, ist eindringlich beschrieben und lässt einen augenblicklich mit Mari mitfühlen. Denn entgegen der populären Meinung, dass Influencer doch alle kalkulierende Geschäftsleute seien, die sich selbst unglaublich toll finden, wählt Kirby eine Protagonistin, die sehr unzufrieden mit sich ist und all ihre Worte und Bilder von anderen, größeren Influencern abkupfert, um selbst auch groß zu werden. Es ist unheimlich faszinierend, wie sie ihren Selbstwert durch die Anzahl an Likes definiert und einem Nervenzusammenbruch nahekommt, wenn sie nicht die Resonanz bekommt, die sie möchte. Daher legt die Autorin großen Wert auf eine Vermenschlichung dieser so unantastbar wirkenden Menschen, die die Highlights ihres Lebens posten und den Rest herausfiltern.
Daher sind die ersten Kapitel des Buches sehr emotional und treiben einem, besonders bei ihrem Entschluss, sich davon zu lösen, Tränen in die Augen. Es ist, auch wenn man nicht viele Follower hat, sehr leicht, sich mit Mari zu identifizieren, denn obwohl sie selbst Teil der ganzen Maskerade ist, möchte sie doch nichts sehnlicher als das, was sich alle von uns wünschen: Ein Leben voller erinnerungswürdiger, echter Momente, die einen zu einem positiven Menschen wachsen lassen.
Im Kontrast dazu steht ihre Angst, sich neuen Herausforderungen zu stellen und ihr altes Leben hinter sich zu lassen, eine Angst, die dem Durchschnittsmenschen ebenfalls sehr bekannt sein dürfte. Alles, was außerhalb der Komfortzone liegt, kann einem große Angst einjagen, bei manchen Menschen angefangen bei einem abenteuerlichen Urlaub oder Roadtrip, bei anderen erst beim Wechsel seiner langjährigen Arbeitsstelle - und ganz besonders angsteinflößend ist es, wenn man sich dem alleine stellen muss.

,,Ich halte einen Moment inne, hole tief Luft, fahre weder los und versuche, nur im Hier und Jetzt zu sein und mein eigenes Ding zu machen. Allerdiengs merke ich plötzlich, dass ich das üben muss, erst recht so allein, wie ich jetzt bin.'' - S. 77
Auch das ist neben der Kritik an Sozialen Medien ein großes Thema, da viele Menschen verlernen - oder gar nie gelebt haben - alleine mit sich selbst zu sein und Abenteuer zu erleben, ohne all das mit anderen teilen zu müssen. Denn das, und das erkennt Mari im Laufe ihrer Reise, macht es nicht realer. Im Gegenteil, vielleicht macht es das sogar gestellter. Auch viele andere Gedankengänge, besonders vonseiten ihrer Cousine, die ein ausgefülltes Reisetagebuch hinterlassen hat, sind von ihrer Aussage her inspirierend und befürworten ein wildes, selbstbestimmtes und mutiges Leben.
Doch obwohl die Autorin so viele großartige Ausgangspunkte geschaffen hat, hat das Buch doch ein großes Problem: Es stellt sich gegen Oberflächlichkeit, geht selbst jedoch kaum in die Tiefe.

Oberflächlichkeit mit Oberflächlichkeit besiegen

Denn während die ersten Kapitel berührend sind und einen in die Geschichte hineinsaugen, geht der Autorin diese Intensität im Laufe des Buches verloren. Anfangen tut dies bei erwähnten Zitaten aus dem Reisetagebuch, die zwar schön sind, aber genau so auf sämtlichen Instagram-Seiten voller Alltagsweisheiten zu finden sind. Dort hätte die Autorin schriftstellerisch wesentlich tiefer gehen müssen, um die Freiheit, die Schwere und zugleich die Leichtigkeit dieser Situation und des Gefühls von Wanderschaften zu beschreiben. Stattdessen arbeitet sie mit sehr kurzen Beschreibungen, die mehr tell als show sind und recht schnell abgehandelt werden. Ab und an streut sie zwar ein paar Naturbeschreibungen ein, Maris Gefühle jedoch und ihre Anstrengung werden nach und nach - vielleicht zugunsten der Schnelligkeit des Plots - beiseitegeschoben. 
Man muss sich vor Augen führen, dass das Mädchen keinerlei Erfahrung mit Wanderschaft hat und selbst ihre Cousine bei der Vorbereitung für diese Strecke ums Leben kam. Und ja, Mari hat zwar ab und an Angst und beschwert sich die ersten Tage über Blasen an den Füßen - doch wenn man vollständig untrainiert ist und dazu noch einen Rucksack auf den Schultern hat, der größer ist als man selbst, dann wird einem das wesentlich schwerer fallen und mehr Spuren hinterlassen. Kein untrainierter Mensch könnte diese gesamte Strecke laufen, und es hätte für Maris Entwicklung absolut gereicht, wenn sie nur einen Teil davon zurückgelegt hätte. Dass die Autorin aber suggeriert, ein Anfänger könnte so etwas zustande bekommen, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch gefährlich, besonders da das Buch dazu anregt, selbst rauszugehen und sich in sein nächstes Abenteuer zu stürzen. Ebenso erstaunlich ist wie die fotografieversessene Protagonistin schon nach ein paar Tagen gar nicht mehr daran denkt, diesen und jenen Moment auf der Linse einzufangen. Es ist zu bezweifeln, dass man dieses zwanghafte Dokumentieren seines Lebens und das Teilen dessen so schnell ablegen kann.
Stattdessen fokussiert sich Kirby auf Maris Mitstreiter, denen sie irgendwann begegnet und  mit denen sie die Strecke zurücklegt. Leider sind diese nicht im Geringsten interessant und auch die aufkeimende Romanze zwischen Mari und Josh ist vollkommen unnötig. Die Autorin hat so viele Themen, die sie behandeln kann - Selbstfindung, Authentizität, Herausfinden, was im Leben wichtig ist, und stattdessen setzt sie uns eine halbgare Lovestory vor, die weder die Handlung noch Mari voranbringt.
Die Handlung allgemein verpackt die Autorin nicht sonderlich spannend. Zwar gibt es ab und an große Hindernisse auf dem Wanderweg, doch aufkommende Konflikte in der Gruppe werden innerhalb von nicht mal zehn Seiten gelöst, sodass man keine Zeit hat, sich emotional überhaupt darin zu involvieren. Zwar ist Mari im Zwiespalt, dass die Gruppe schlecht über sie denken könnte, wenn sie erfahren, dass sie eine Influencerin war, jedoch hat sie dafür genauso wenig eine Basis wie für ihre plötzlichen Gefühle für Josh.

Charakterentwicklung?

Mari ist sowieso eine schwierige Figur. Auf der einen Seite hat sie eine sehr spannende Entwicklung und wird immer wieder dazu herausgefordert, über sich selbst hinauszuwachsen, und tut dies auch in vielen Situationen. Auf der anderen Seite jedoch heimst sie Lob von Außenstehenden dafür ein, was ihre Cousine Bri eigentlich erreichen wollte, und nicht sie selbst. Wäre der Rucksack nicht schon gepackt gewesen und hätte Mari nicht alles notwendige Wissen zu dieser Wanderschaft wortwörtlich in einem Paket vor die Füße geworfen bekommen, so hätte sie den Respekt und das Lob von anderen und somit auch ihre Selbstbestärkung gar nicht bekommen. Kann man dann wirklich von einer Charakterentwicklung sprechen, wenn das, was man erreicht hat, auf die jahrelange Vorbereitung einer anderen Person zurückzuführen ist? Auch wenn sie dies ab und an reflektiert, es macht es doch schwer, Mari am Ende des Buches als andere Person zu sehen als zu Beginn. Allerdings ist es löblich, dass sie sich wirklich viel mit sich selbst auseinandersetzt und lernt, zu ihren Fehlern zu stehen.
Schade ist es nur, dass die Autorin so ein abruptes Ende gewählt hat. Denn all die Konflikte, die Mari daheim gelassen hat - das Löschen ihres Profils, Backlash von ihrem Fakefreund, ganz besonders, dass sie einfach abgehauen ist, ohne dies vorher mit ihrer sich sorgenden Mutter zu besprechen - werden überhaupt nicht mehr aufgelöst oder gar angesprochen. Ebenso die Frage, ob diese Wanderschaft wirklich langfristig etwas in Mari bewirkt hat. Denn auch wenn man eine so freie, nahezu schon spirituelle Erfahrung gemacht hat und in diesen Wochen mit sich selbst allein und zufrieden war, so schafft es die Rückkehr in den Alltag häufig, diese Ansätze einer neuen Lebenseinstellung im Keim zu ersticken. Und das wäre der eigentliche Pay-Off der ganzen Geschichte gewesen - denn wozu diese Wanderung, wenn sie langfristig nichts in einem bewirkt?

Offline ist es nass, wenn es regnet ist ein lockerflockiges, süßes Buch, das für Jugendliche ab 12 Jahren vielleicht diesen bombastischen, lebensverändernden Effekt hat, den Mari sucht und die Autorin sicherlich auch anstrebt. Sie zeigt auch viele Ansätze und großes Potential in den ersten Kapiteln, sich mit relevanten Themen rund um das Wichtige im Leben und Selbstfindung zu beschäftigen. Doch leider flacht die Geschichte in ihrer Tiefe sehr ab und bietet einem nur ab und an kleinere Problemchen, die keinen weiteren Einfluss auf Maris Werdegang haben. So ungern ich ein Genre pauschalisiere und so oft mir manchmal bei einigen Weisheiten die Tränen in den Augen standen - wenn das Buch kein Jugendbuch wäre, dann hätten Kirbys inspirierende Aussagen einen viel mehr treffen und mitnehmen, ja vielleicht sogar verändern können. So bleibt das Buch aber ein großer Batzen an Potential, das nicht ordentlich genutzt wurde.



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