Mittwoch, 24. Juli 2019

Die Welt im Rücken | Der Erfahrungsbericht eines Bipolaren

[Rezension]


Grundwissen:



Titel♥: Die Welt im Rücken
Autor/-in♥: Thomas Melle
Erschienen♥: 2016 im Rowohlt-Verlag
Seitenanzahl♥: 348 Seiten
Preis♥: 9, 99 € (Taschenbuch)
Genre♥: Erfahrungsbericht; Autobiographie; Belletristik




Quelle: © Rowohlt Verlag



Inhalt:



Wie soll man den Menschen auch erklären, was einem selbst nicht begreiflich ist? Wie klarmachen, dass zwar ich es war, der diese Dinge tat, dass ich es aber auch nicht war? Das ist der Spalt, wenn nicht Abgrund in mir, mit dem ich leben muss, den ich manchmal zuzuschütten versuche, der immer da, der nicht mehr auszufüllen ist. - S. 287


Bei Beginn seines Studiums fängt Thomas Melle an, sich zu verändern. Mal ist er sehr produktiv und kann tagelang durcharbeiten, hat tausende von Ideen für seine Manuskripte, und dann wieder fällt er in so abgründige Tiefs, dass er selbst einfachste Aufgaben nicht mehr in Angriff nehmen kann. Als er von seinen Freunden in die Psychiatrie eingeliefert wird, bekommt er die Diagnose gestellt: Er leidet unter der bipolaren Störung, einer psychischen Erkrankung, in der das Individuum Manien und Depression abwechselnd und in ihrer ganzen Intensität erlebt. In dieser Autobiographie erzählt er von den drei Phasen, die er bisher durchlebt hat, und wie er damit umgeht.



Meine Meinung ...




zum Buch:


Psychische Erkrankungen sind für die allgemeine Öffentlichkeit noch immer ein Tabuthema. Glücklicherweise werden in der Literatur nun mehr Own-Voices-Geschichten laut, die das Leben mit einer psychischen Erkrankung Lesern begreiflich zu machen versuchen oder ihnen zu zeigen, dass man nicht der einzige Betroffene ist. Erfahrungsberichte sind allerdings eher rar gesät, vielleicht weil die sichere Distanz zum Geschehen durch das Fiktionale daran nicht mehr vorhanden ist. Auch wenn die Erlebnisse, die Melle hierin beschreibt, so dramatisch und abgefuckt sind, dass man sie am liebsten als Fiktion verbuchen würde.

Knallhart, ehrlich und gekonnt formuliert

Denn dieser Roman, der 2016 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, erschlägt einen mit seiner Ehrlichkeit und Rauheit. Denn Melle lässt kein Detail aus diesen drei manisch-depressiven Phasen, die er bislang erlebte, aus, und diese sind dermaßen gefüllt mit Handlungen und Erlebnissen, die ein einzelner Mensch wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht durchmacht. Es ist auch faszinierend, wie sich sein Schreibstil in diesen Passagen verändert, denn während er in seinen depressiven Phasen die unheimliche Leere und Gleichgültigkeit in sich nüchtern und einfühlsam beschreibt, erzählt er von seinen manischen Phasen sehr gehetzt und zum Teil in solchen Gedankensprüngen, dass man manche Sätze nochmals lesen muss, um den Inhalt zu verarbeiten. Zwar hat er nicht allzu viele Werke veröffentlicht, man kann sich jedoch vorstellen, wie konfus und brillant zugleich sie geschrieben sein müssen, wenn er schon seine eigene Gefühlslage so plastisch und lebensnahe beschreiben kann. Es ist gleichzeitig hochinteressant, intensiv und erschreckend, in seinem Kopf zu stecken und all die Gedanken und Ideen zu lesen, die ihm zu diesen Zeitpunkten durch den Kopf schossen.
Denn das Erschreckende daran ist, dass er sich unmittelbar im Übergang der Phasen nicht mehr damit identifizieren kann. Während er sich in seinen manischen Phasen unbesiegbar fühlt, das Leben in all seinem Hedonismus und seiner Waghalsigkeit auslebt und dabei zugleich von dem Gedanken besessen ist, dass er der Erlöser der Welt sei, schämt er sich in seiner depressiven Phase für sein Verhalten und würde sein Leben am liebsten beenden. Dieser radikale Wechsel von einer kompletten Reizüberflutung und der kompletten Abwesenheit von Emotionen lassen ihn und andere Menschen, die diese psychische Erkrankung haben, das Höchste und Tiefste durchleben, jedoch ohne die Zwischentöne, die ein Mensch zur Erholung davon braucht. Und wie er richtigerweise in seinem Erfahrungsbericht erwähnt, macht das den Anteil der Suizidgefährdeten mit dieser Erkrankung unheimlich hoch. Das lässt er genauso wenig aus wie seine narzisstischen Selbstbeweihräucherungen, seine um seine Person herumgebauten Verschwörungstheorien, seine heftige Orientierungslosigkeit sowie seine Kurzaufenthalte in Psychiatrien und schließlich auch sein Angewiesensein auf eine Betreuung, weil er seine eigenen Finanzen und Besitztümer nicht mehr verwalten kann. Und in all seiner faszinierenden Schrecklichkeit ist es wunderbar und gekonnt formuliert. Melle ist ein wahres Schreibtalent.


,,Das System beginnt, von einem winzigen, mutierenden Detail ausgehend, zu wuchern wie ein irres Fantasiegebilde. Es wandelt sich dabei ständig, morpht sich, wie in einer Cunningham'schen Animation, rasant durch vielfältigste Formen. Weitere Details kommen dazu, verfestigen sich, werden zu Scharnieren, zu Tragstützen, werden wieder verworfen und ersetzt. Ein unaufhaltsamer, steter Prozess der Weltenbildung und Weltenvernichtung ist im Gange. Der Wahnsinn ist ein Vorgang, kein Zustand, und er kann Stunden dauern, oder Wochen, oder Monate. Oder auch ein Jahr.'' - S. 47

Erschreckend und doch nicht mitleiderregend


Obwohl Thomas Melle all diese Tücken der bipolaren Störung beschreibt, kommt man doch nie in Versuchung, ihn nur als Produkt seiner Krankheit anzusehen. Dadurch, dass er ausschließlich von diesem Teil seines Lebens berichtet und Studium sowie sein Dasein als Autor nur als Randerscheinungen darin vorkommen, wäre das nämlich sehr leicht.
Doch Melle schafft es sehr gut zu formulieren, wie er trotz oder gerade wegen seiner Erkrankung behandelt werden möchte: Weder als Leidtragender noch Opfer, auch nicht als Mann mit einem Alibi für alles aufgrund seiner Erkrankung. Er betont deutlich, dass er nicht all seine Verhaltensweisen auf seine Krankheit schieben kann, auf der anderen Seite jedoch nicht dafür die Schuld zugeschoben bekommen möchte, dass sie bei ihm ausgebrochen ist. Dadurch zeigt er sowohl die Stigmatisierung auf, unter der Menschen mit psychischer Erkrankung oftmals zu leiden haben, leistet als auch den Versuch, sie aufbrechen zu wollen. Das gelingt ihm durch diese authentische Darstellung seiner selbst, denn er scheut sich nicht die Uneinsichtigkeit am Anfang seiner Krankheit zu beschreiben und seine damalige, sehr stereotype und negative Sicht auf Therapie und Psychiater miteinzubeziehen - ein Moment, in dem er einem sogar sehr unsympathisch werden kann, wenn man nicht im Kopf behält, dass das sein damaliger Standpunkt war.

,,Seltsam: Ich war mir doch offensichtlich bewusst, krank zu sein, warum sonst hätte ich ihnen Frys filmische Selbsterkundung zeigen sollen? Aber das Bewusstsein darüber war flüchtig, war an die schwankenden Stimmungen gekoppelt und selbst in klareren Momenten mit keiner echten Selbsterkenntnis verbunden. Ich war mir meiner Krankheit bewusst und dann doch, auf höherem, handlungsweisendem Level, wieder gar nicht.'' - S. 286
Realistisch und ermutigend

Der Leser erlebt also die bipolare Störung in all ihren Schattierungen mit, und so sehr es einen auch aufregen mag, dass der Autor direkte ärztliche Anweisungen ignoriert, in Mengen trinkt und sich in Verleugnungen verliert, so macht genau das diese wahre Geschichte auch spannend. Ab und an hat man zwar das Gefühl, dass sich einige Punkte wiederholen, aber wie bei jedem Relapse im echten Leben ist es für den Leser genauso wie für den Betroffenen: Ja, man kennt das alles. Ja, man weiß, was für ein Mist auf einen zukommt. Ja, man hätte präventiv handeln sollen. Aber irgendwas hält einen davon letztlich ab, und sei es der eigene Stolz, der über der Einsichtigkeit steht, Hilfe zu benötigen. Es ist ermüdend und frustrierend, aber genau so läuft es bei psychischen Erkrankungen eben ab, und wenn man dies dem Autoren zum Vorwurf macht, dann hat man das Ausmaß und die Krux einer seelischen Behinderung noch nicht vollständig verstanden.
Umso ermutigender und hoffnungsvoller ist das Ende des Romans, in dem der Autor gebrochen von seinen Phasen ist, ihr zugleich aber den Kampf ansagt und sich die ,,verschwendeten'' Lebensjahre zurückholen möchte. Auch wenn er stetig in Angst leben muss, dass die Emotionen ihn übermannen, er möchte doch nicht aufgeben. Und das ist besonders bei dieser Erkrankung, die so viele Leben in vielerlei Hinsicht fordert und ihn durch die Hölle gehen ließ, bewundernswert.


Alles in allem ein Buch, das seinen Platz auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis wert ist. Das Buch ist nicht nur ein berührender Erfahrungsbericht mit vielen Informationen zu einer sehr tabuisierten Erkrankung, auch schafft der Autor es durch sehr gekonnte, intensive Beschreibungen, die Empathie des Lesers zu erwecken. Ohne auf die Tränendrüse zu drücken oder Mitleid erregen zu wollen, erzählt er von seinem Leben mit den höchsten Hochs und tiefsten Tiefs und wie er es nach Jahren der Verleugnung geschafft hat, sich ihr zu stellen. Ein sehr guter Own-Voices-Roman mit hohem schriftstellerischem Anspruch und einer wichtigen, authentisch dargestellten Thematik.


Ich gebe dem Buch:

4,5/5 Punkten


CU
Sana

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