Mittwoch, 27. Februar 2019

:)Rezension:): Die Deutschen in ihrem Jahrhundert | Ein Essay zur deutschen Identität

Grundwissen:



Titel♥: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert - 1890 bis 1990 
Autor/-in♥: Christian Graf von Krackow
Erschienen♥: 1990 im Rowohlt-Verlag
Seitenanzahl♥: 365 (ohne Anmerkungen und Quellenverweise)
Preis♥: ab 4, 99 € (Hardcover); 0, 16 € (Taschenbuch)
Genre♥: Sachbuch; Non-Fiction; Essay; Geschichte


Quelle: ©  Rowohlt Verlag



Inhalt:


Komplexe Identität bildet folgerichtig eine Voraussetzung dafür, Tugenden zu entwickeln und einzuüben, wie die zukunftsoffene Gesellschaft und ein demokratisches Gemeinwesen sie brauchen: Mäßigung, Kompromi[ss]bereitschaft, Toleranz. - S. 329




Von 1890 bis 1990 durchlief das deutsche Volk viele Hochs, viele Tiefs und eine Menge politischer Umwälzungen. Von dem Beginn der Industrialisierung im Kaiserreich über die zunehmende Bedeutung des Militarismus bis hin zum Dritten Reich und der Befreiung davon haben die Deutschen im vergangenen Jahrhundert viel gehabt, das sie noch heute formt. Wie kam eines zum anderen und wie ging der kleine Bürger damit um? Wie sah das gesellschaftliche Leben neben diesen politisch relevanten Geschehnissen aus? Was davon prägte ihre Identität und sehen wir uns heute noch mit ähnlichen Problemen und Fragen konfrontiert? Die Geschichte eines Volkes, das ständig auf der Suche nach sich selbst ist.



Meine Meinung ...




zum Buch:




Dieses Buch ist nicht nur ein bloßes Geschichtsbuch. Es arbeitet nicht nur die wichtigsten Ereignisse unserer Geschichte auf, sondern stellt damit auch die Weichen dafür zu verstehen, warum wir heute sind wie wir sind, und das obwohl es vor fast 30 Jahren erschienen ist. Denn neben knappen Erklärungen zu wichtigen Wendepunkten in Deutschland und dem Rest der Welt, analysiert der Autor vor allem die deutsche Identität im Laufe dieses prägenden Jahrhunderts - eine deutsche Identität, die heute noch immer nicht genau definiert werden kann.

Dabei werden die gesellschaftlichen Entwicklungen durch alle Schichten hindurch erläutert, besonders die Entstehung der Arbeiterschaft, die wiederum die Entstehung der sozial ausgerichteten Parteien wie der SPD begünstigt haben. Doch obwohl man zu Beginn der Industrialisierung Möglichkeiten hat, gesellschaftlich aufzusteigen und sein Leben nicht durch die Geburt in einer Bauernfamilie bestimmt zu sehen, verloren der Obrigkeitsstaat und des Kaisers nicht an Bedeutung. Im Gegenteil, es wurde sich sogar umso mehr darauf zurückbezogen, denn neue Möglichkeiten gehen immer mit einer gewissen Unsicherheit einher. Man kann aus seiner Rolle ausbrechen und eine neue annehmen, doch man selbst trägt die Verantwortung, ob dies schiefgeht oder nicht. Doch genau diese Verantwortung war dem Volk neu, weswegen sich immer mehr an die angestammten ,,deutschen'' Werte, u. a. Militarismus, geklammert wurde.

Und dieses Festhalten am Alten, obwohl die Einführung des neuen Systems zu einem Leben auf Basis der Demokratie und Moderne führen würde, fällt die Wiederholung genau dieser nach hinten gerichteten Sehnsucht in diesen hundert Jahren immer wieder auf.  Egal ob es die Novemberrevolution und Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg ist oder die Alliierten nach dem Dritten Reich, dieses Jahrhundert zeichnet sich dadurch aus, dass man demokratische Werte aufgedrängt bekommt, jedoch niemals selbst aktiv dafür gekämpft hat. Selbst die Sozialdemokraten, die noch die aktivsten unter den sich langsam herausbildenen Parteien waren, waren nicht mutig genug, außerhalb des Kaisertums mit bedeutungslosem Parlament hinauszudenken und eine Revolution zu wagen wie die Franzosen. Es ist immer eine von oben, die im Falle nach dem 1. Weltkrieg nur dafür sorgen sollte, dass die Verantwortung für den Verlust des Krieges auf den Sündenbock der Demokraten geschoben werden konnte. Und wenn es nicht vom Volk ausgeht, dann ist es nur logisch, dass dieses mit diesen Werten nichts anzufangen weiß. Man war nicht bereit für die Macht des Volkes, man war gewöhnt an die Autorität des Kaiserreichs und glaubte an seine Richtigkeit, während die Vielen als fehlbar angesehen wurden.

,,Politik bedeutet, daß fehlbare Menschen in einer unvollkommenen Ordnung, im Widerstreit der Interessen und Anschauungen, im Gewirr von Machtchancen und Ohnmacht dennoch selbstbewusst handeln, daß sie auf eine offene Zukunft hin, unter Bedingungen der Ungewißheit Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen.'' - S. 324f.

Daher macht Von Krackow einen guten Job zu erklären, weshalb Deutschland so lange gebraucht hat, sich von Führern und Mitläufertum wenigstens gedanklich zu lösen, denn genau das machte der Meinung der Bevölkerung nach ihre ganze Identität aus. Eine Identität, die angesichts des Flickenteppichs, der Deutschland mal gewesen ist, von Anfang an niemals einheitlich oder genau definiert war. Man war vielleicht Sachse oder Hesse, aber das Gefühl, ein Deutscher zu sein, kam letztlich nur durch Ideale ohne Konsistenz dahinter. Man klammerte sich an Träume einer Hochseeflotte fest, die selbst Großbritannien übertreffen sollte, an der Erhabenheit des deutschen Volkes, am von Hitler eingeführten Sozialdarwinismus, der die Leute blendete und ihnen das Gefühl für eine Daseinsberechtigung gab und dass sie sich genau diesen Strukturen beugen konnten.
Hitler war sogar einer der ersten, der sich über die Unterwürfigkeit seines eigenen Volkes lustig macht, wenn Von Krackow ihn zitiert: 

,,Je weniger Bildung im üblichen Sinne diese Schicht besitzt, um so besser wird es sein.'' - Adolf Hitler in ,,Mein Kampf'', S. 171
Alleine in diesem einen Satz wird einem schon bewusst, dass Propaganda schon immer gefruchtet hat und dass ein unpolitisches Volk denen, die an der Macht bleiben wollen, am besten dienen. Nicht nur Hitler wird vom Autor unter die Lupe genommen, auch der Kaiser des damaligen Deutschen Reiches sowie Carl Schmidt und Ernst Jünger wurden angerissen, um ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu zeigen. Er zeigt, dass diese Menschen den Deutschen das Gefühl gegeben haben, das ihnen Sicherheit gab: ein guter Bürger zu sein und die Verantwortung des eigenen Landes in die Hände von anderen zu geben.
Dieser Depolitisierung folgte eine Repolitisierung nach dem 2. Weltkrieg, in dem sich die Demokratie endlich richtig etablieren konnte, wenn auch mit vielen Hürden und wieder mal von anderen auferlegt als erkämpft. Dennoch wuchs die Beschäftigung mit Politik enorm, ironischerweise, wie der Autor herausstellt, in Zeiten, in denen die Lage eigentlich kaum hätte besser sein können. Im Vergleich zum Horror der vergangenen Jahre war die junge Bundesrepublik und ihre Probleme harmlos. 

,,Wenn ,Demokratiewerte' sich daran messen lassen, daß die Menschen sich kratzbürstig ins politische Getriebe mischen und vor keiner Form von Obrigkeit in Ehrfurcht erstarren, dann sind mit ihren Jugendbewegungen vorweg die Deutschen in der Bundesrepublik immer entscheidener, mit ständig wachsenden Mehrheiten tatsächlich Demokraten geworden.'' - S. 308
Und genau deswegen ist Die Deutschen in ihrem Jahrhundert so bemerkenswert: Viele vergleichen unsere heutige Situation mit der zu Zeiten der Weimarer Republik. Das ist jedoch zu einfach gedacht, denn es ist wesentlich mehr als das und setzt sich zusammen aus Faktoren, die schon immer da waren und vielleicht speziell auf Deutschland gesehen eine gute Wirkung erzielen. Besonders das Berufen auf die ,,besseren Zeiten von Früher'' sind ein guter Ansatz, um den heutigen Rechtsruck zu erklären, ebenso wie geringfügige Probleme, wie nicht mal fünf Prozent Anteil von Muslimen in Deutschland, zu einem nationalen Notstand hochstilisiert werden. Das Vergangene, das viele der heutigen Anhänger von Pegida, AfD und ähnlichen Gruppierungen nicht mal selbst erleben konnten, wird verklärt, und Strohmänner aufgebaut, um die eigene Propaganda zu wirken.

Dieser Zirkelschluss zeigt, wie wichtig es ist, seine eigene Geschichte zu verstehen, denn auch wenn es platt erscheint, die Gegebenheiten von über einem Jahrhundert auf eine fehlende Identität zurückzuführen - man sieht, wie periodisch es zu Problemen führt und auch heute noch von großer Relevanz ist. Denn vor was haben besonders die Rechten mehr Angst als vor dem Verlust ihrer nationalen Identität?

Alles in allem ist dieses Sachbuch sehr informativ und kann einem dazu verhelfen, die Geschichte des eigenen Landes und das, was uns immer wieder zu denselben Fehlern verleitet hat, zu verstehen. Sicherlich sollte man einiges an Grundwissen mitbringen, denn der Autor fokussiert sich, ähnlich wie diese Rezension, mehr auf eine Analyse der Gesellschaft als darauf, was genau wann und wie geschehen ist. Dort bleibt er recht kurz angebunden, hat allerdings ein breites Repertoire an Zitaten, die seine Thesen zur deutschen Identität stützen. Ab und an sind es wirklich zu viele, sodass man sich zwingen muss, die Seiten nicht zu überblättern, und man wird sicherlich, besonders als junger Leser, merken, dass der Autor schon etwas älter ist und man nicht mit allem übereinstimmt. Dennoch ein sehr erleuchtender und wichtiger Essay, der dem ein oder anderen die Augen öffnen könnte.



Ich gebe dem Buch:

4/5 Punkten


Extra:


Der Autor scheint allgemein Bücher über das Thema Deutschland zu schreiben. Seine anderen Werke könnt ihr hier einsehen.

CU
Sana

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