Mittwoch, 5. Juni 2019

Das dunkle Herz des Waldes | Poetische Hexengeschichte oder ein Märchen?

[Rezension]


Grundwissen:



Titel♥: Das dunkle Herz des Waldes (original: Uprooted)
Autor/-in♥: Naomi Novik
Erschienen♥: November 2016 im cbj-Verlag; original Mai 2015
Seitenanzahl♥: 576 Seiten
Genre♥: High Fantasy; Young Adult; Mystery
Preis:♥ 16, 99 € (Hardcover)


Quelle: © cbj Verlag
Quelle: ©  Pan Macmillan Verlag






















Inhalt:

''It comes, I suppose,” I said thoughtfully, speaking to the air, “of spending too much time alone indoors, and forgetting that living things don’t always stay where you put them.” - Agnieszka von Dvernik



Agnieszka liebt das kleine Tal, in dem sie aufgewachsen ist, heiß und innig. Umso weniger versteht sie, wie die Mädchen, die ,,der Drache'', der in einem Turm in der Nähe ihres Dorfes lebt und alle zehn Jahre eines zu sich nimmt, danach in das weite Land Polnyas gehen können, ohne einen Blick auf ihre Familie zurückzuwerfen. Auch jetzt ist es wieder an der Zeit für den Drachen, ein Mädchen auszuwählen, und jeder ist davon überzeugt, dass es Agnieszkas beste Freundin Kasia treffen wird. Doch entgegen aller Erwartungen nimmt er Agnieszka zu sich - nicht jedoch wegen ihres Äußeren, sondern weil sie die versteckte Gabe der Magie in sich trägt. Und in dieser möchte er sie trainieren, denn der dunkle, magische Wald, der seit Anbeginn der Zeit Polnya überwuchert, breitet sich immer weiter aus und korrumpiert all diejenigen, die sich von seinen Wesen einfangen lassen. Können Agnieszka und der Drache den Wald besiegen?



Meine Meinung ...


zum Buch:



Naomi Novik beschreibt in ihrem Nachwort, dass ein polnisches Märchen namens Agnieszka Skrawek Nieba (dtsch: ,,Agnieszka: Ein Teil des Himmels'') sie zu dieser Geschichte und besonders der Ausarbeitung des Waldes inspiriert habe. Doch obwohl Märchen-Retellings gerade eine Hochphase in der Jugendliteratur erleben, scheinen Leser Das dunkle Herz des Waldes entweder aus vollem Herzen zu lieben oder aus tiefster Seele zu hassen. Und auch wenn Extreme häufig die Wahrnehmung verzerren, so kann ich definitiv beide Seiten nachvollziehen.

Wahrhaft märchenhaft erzählt

Eines der traumhaftesten Dinge an diesem Einzelband ist der Schreibstil, der einfach nur malerisch ist und besonders die Umwelt und Natur in dieser mittelalterlichen Welt im Detail beschreibt. Man könnte sogar sagen, dass die Autorin in ihrer verschnörkelten und blumigen Sprache sogar J. R. R. Tolkien sehr nahekommt, da man fast den Eindruck hat, die Autorin wäre ebenso verliebt in ihre Welt wie Tolkien es in Mittelerde ist. Natürlich ist die von ihr erschaffene Welt nicht so groß, sie umfasst hauptsächlich nur die zwei Länder Polnya und Rosya (unverkennbar Polen und Russland) mit nur wenigen Städten und Dörfern als Eckpunkte, jedoch ist eben diese ausladende Beschreibung des Waldes unglaublich atmosphärisch und saugt einen in Agnieszkas Heimat hinein. Wer sich also ein detailliertes World-Building mit passender Landkarte erhofft, der wird leider enttäuscht werden; wenn man sich lediglich auf diese lebendige Beschreibung der Umgebung fokussiert, kann man allerdings wieder begeistert sein.
Allgemein fühlt sich Vieles in diesem High-Fantasy-Roman an wie ein Märchen. Denn nicht nur ist das Dorfleben sehr idyllisch beschrieben, auch die Figuren sind zwar nicht sonderlich komplex, allerdings sehr blumig und detailliert beschrieben, sodass man sich einen guten Überblick über die Persönlichkeit derjenigen machen kann. Durch kleine Details schafft es die Autorin, Orte und Personen sehr lebendig erscheinen zu lassen und einen mitfühlen zu lassen, wenn etwas Schlimmes vorfällt. Besonders in Situationen, in denen es ums nackte Überleben und raue Emotionen geht, fesselt die Autorin einen an die Handlung und kann sogar das ein oder andere entsetzte Aufkeuchen hervorrufen.
Worin sie sich jedoch immer wieder selbst übertrifft, ist ihre Art, Magie zu beschreiben. Denn ähnlich wie auch die Welt sind Regeln und Gesetzmäßigkeiten oder gar ein Magiesystem nicht wirklich vorhanden; es ist eher ''soft magic'', die bei jedem Magier und jeder Hexe anders ist und individualisiert eingeübt und ausgedrückt wird. Das sorgt neben dem stimmungsvollen Aufsagen von Zaubersprüchen und fantasievollen Metaphern darin auch für lustige Situationen, da ,,der Drache'' als pedantischer Perfektionist sich immer wieder aufregt, wenn Agnieszka in ihrer Uneleganz und Schlurrigkeit manche Zaubersprüche schnell besser beherrscht als er. 

Merkwürdige Charaktere

Doch so lustig diese Momente zwischen Agnieszka und ,,dem Drachen'' sind und so interessant die Dynamik zwischen diesen beiden ungleichen Figuren ist, so merkwürdig ist die Beziehung zwischen den beiden. Es ist super, dass die Autorin sich mehr auf die Magie und die Geschichte konzentriert als das, was sich zwischen den beiden entwickelt; das sollten sich wesentlich mehr Jugendromane abgucken. Ebenso gut gemacht ist, dass sich die Vertrautheit zwischen den beiden sehr langsam entwickelt und auch ,,der Drache'' ihr nur stückweise und langsam seine Vergangenheit offenbart.
Nichtsdestotrotz wollen die beiden nicht ganz zusammenpassen und haben nie eine vollkommen klare Beziehung zueinander. Agnieszka selbst ist sich ihrer Gefühle niemals sicher oder denkt gar wirklich darüber nach, und ,,der Drache'' kann sich innerhalb des ganzen Buches nicht ein einziges Mal dazu durchringen, sie anzulächeln. Ja, er wird bereits als unangenehmer Zeitgenosse vorgestellt, aber selbst unangenehme, sozial unverträgliche Zeitgenossen lächeln den- oder diejenige an, in die sie sich verliebt haben. Daher ist es nicht mal ein echtes Will-they-won't-they zwischen den beiden, sondern eher ein Wie-zur-Hölle-steht-ihr-eigentlich-zueinander?. Dazu tragen vor allem die ersten fünfzig Seiten bei, in denen Agnieszka von ihm sehr rau behandelt wird, um es noch vornehm auszudrücken.
Auch die beiden Charaktere für sich genommen sind nicht komplett rund. Bei Agnieszka ist zwar ihre natürliche Begabung für Magie wunderbar beschrieben, ebenso wie ihr Dickkopf, allerdings tut sie im Laufe des Buches immer wieder Dinge, die sie nicht als sonderlich intelligent auszeichnen, Landei hin oder her. In solchen Momenten will man sie am liebsten schütteln und sie fragen, wie sie so naiv sein kann. ,,Der Drache'' auf der anderen Seite ist besonders durch seine zynischen Sprüche und seine dauerhaft düstere Stimmung ein sehr imposanter und auch unterhaltsamer Charakter - besonders wenn man ihm in Sachen von Agnieszkas Naivität zustimmen muss. Auf der anderen Seite jedoch ist er manchmal einfach ein Ekel, und man sträubt sich dagegen, ihm überhaupt in irgendwas zuzustimmen.
Interessanter als die beiden Hauptcharaktere sind eher die Nebenfiguren, die ab und an ein wenig zu kurz kommen. Besonders Agnieszkas Freundin Kasia hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient, ebenso wie Prinz Marek, der ehemals seine Mutter an den dunklen Wald verloren hat. Diese stellen sich auch dauerhaft intelligenter an als Agnieszka und bringen interessante Wendungen in die Geschichte, die sich nach und nach von einem vergleichsweise kleinen Problem immer weiter ausweitet.

Wenn ein Wald alles überwuchert

Der beste Charakter dieser Geschichte ist allerdings eindeutig der Wald. Durch seine beeindruckenden Beschreibungen und die gruselig-eklige Atmosphäre ist er sehr einschüchternd und wuchert im Hintergrund der Geschichte als Bedrohung für Polnya und Rosya. Er ist kein gesteuertes oder manipulierbares Wesen, sondern eine eigene Existenz, die Menschen korrumpiert und sich von ihrem Leid ernährt. Teilweise erinnert er in seiner Lebendigkeit und Böswilligkeit an den Wald in Prinzessin Mononoke oder dem Sumpf in Avatar: Herr der Elemente, nur noch dunkler, noch intelligenter und vor allem blutiger. Ungelogen, dass ein Kampf mit einem Wald spannender ist als so manche Schlachten, die man gelesen hat, das zeugt von wahrem Talent der Autorin. Doch obwohl es sich hierbei um einen Gegner mit unglaublich großer Macht handelt und man nicht weiß, wie eine Hexe und ein Magier dagegen ankommen können, so langweilt er einen trotzdem nicht. 
Der Wald überwuchert jedoch nicht nur immer mehr die Welt Agnieszkas, sondern auch die allgemeine Geschichte, denn diese fühlt sich an einigen Stellen unausgereift an. So ist zwar fast jeder der Plot- und Wendepunkte spannend, jedoch fühlt es sich so an, als würde die Autorin sich an ihnen entlanghangeln und keine wirkliche Idee haben, wie sie von A nach B gelangen soll. Das merkt man besonders in den Kapiteln am Königshof, in denen gefühlt nichts passiert und alles sehr in die Länge gezogen wird. Und auch wenn man keine festen Regeln für das Magiesystem etabliert - so sollte man doch eine gewisse Stimmigkeit erschaffen, was in einigen für die Geschichte wichtigen Elementen einfach nicht gegeben ist. Es fühlt sich eher so an, als wollte die Autorin bestimmte Punkte aufschieben und hätte Manches passieren lassen, damit es passiert, ohne dass es sich organisch entwickelt. Daher ist die Story an sich nicht so stark, wie sie hätte sein können, besonders da alles irgendwann nur darin mündet, bestimmte Zauber aufzusagen und zu schauen, was passiert. Entsprechend kann sich die ein oder andere Stelle sehr langgezogen anfühlen.
Und auch das Ende ist durchaus kontrovers, denn es ist einem Märchen in einer märchenhaften Welt angepasst, allerdings durch das Einbeziehen von Intrigen und Politik etwas kurzgeraten und in mancherlei Hinsicht sogar esoterisch. Für diejenigen, die das von einem Märchen erwarten, mit Sicherheit kein Problem; wenn man es jedoch als High-Fantasy-Geschichte betrachtet, dann fühlt man sich fast wie auf Drogen, wenn man einer außenstehenden Person beschreiben will, was am Ende geschieht.


Alles in allem ist diese sehr kontroverse Geschichte in mancherlei Hinsicht wahnsinnig schön, in anderen jedoch ein wenig unterentwickelt. Besonders der malerische Schreibstil wie auch das Märchen- und Abenteuerfeeling, diese ganz urige Beschreibung von Magie und einer dunklen Präsenz des Waldes, sind Aspekte, die einen an die Geschichte fesseln und mitfiebern lassen. Wenn es um die Teile die Geschichte geht, die weniger in das Modell eines Märchens hineinpassen, wie politische Intrigen oder World-Building, hat die Autorin, ob bewusst oder unbewusst, weniger Input reingesteckt. Dazu noch sind die Hauptcharaktere eher merkwürdig geschrieben und haben ziemlich uneindeutige Beziehungen zueinander. Geht ihr also mit der Einstellung rein, ein reines Märchen zu lesen, so wird euch Das dunkle Herz des Waldes bestimmt begeistern können; wer jedoch etwas kritischer liest, dem werden viele kleine Unebenmäßigkeiten auffallen, die sich letztlich aufeinanderstapeln und einen die ein oder andere Schwäche erkennen lassen.


Ich gebe dem Buch:

3,5/5 Punkten

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