Samstag, 29. Juni 2019

Scythe: Die Hüter des Todes | Wenn man die Macht über Leben und Tod hat ...

[Rezension]


Grundwissen:



Titel♥: Scythe - Hüter des Todes (original: Scythe)
Autor/-in♥: Neal Shusterman
Erschienen♥: September 2017 im Fischer-Sauerländer-Verlag
Seitenanzahl♥: 528 Seiten
Preis♥: 19, 99 € (Hardcover); 15, 00 € (broschiert); 14, 99 € (Kindle Edition) [Quelle: amazon.de]
Genre♥: Young Adult; Dystopie/Utopie; Science Fiction
Reihe♥: ✓

Scythe: Die Hüter des Todes

Scythe: Der Zorn der Gerechten

> [original: The Toll], erscheint voraussichtlich im November 2019

Quelle: © Fischer-Sauerländer-Verlag
Quelle: ©  Simon Shuster Books for Young Readers





















Inhalt:

,,Jeder ist für irgendwas schuldig, und jeder behält eine Erinnerung an die Unschuld aus der Kindheit, egal wie viele Schichten des Lebens sich darum gesponnen haben. Die Menschheit ist schuldig, die Menschheit ist unschuldig, und beide Zustände sind unbestreitbar wahr.'' - Die Ehrenwerte Scythe Marie Currie


In einer nicht weit entfernten Zukunft gibt es keinen Hunger, keine Kriege und auch keinen natürlichen Tod mehr. Die Menschheit ist zur Unsterblichkeit aufgestiegen und wird vom Thunderhead, einer unfehlbaren Künstlichen Intelligenz regiert, die alle Ungleichheiten bereinigt und für Frieden sorgt. Wer sterben sollte, wird sofort in einem Revival Center wiederhergestellt. Dennoch ist der Planet nicht groß genug für jeden Einzelnen, weswegen der Tod auf andere Weise eintreten muss, nämlich durch die Scythe, Menschen, die auserwählt wurden, Personen ,,nachzulesen'' und somit offiziell das Leben zu nehmen.
Rowan und Citra, zwei Jugendliche, treffen durch diverse Umstände auf den ehrenwerten Scythe Faraday, der so beeindruckt von der Moral der beiden ist, dass er sie als Lehrlinge einstellt. Denn nur diejenigen, die sich gegen diese Arbeit sträuben, sind dafür geeignet. Und so müssen sich die beiden einer Lehre stellen, die nicht nur viel Geschick im Umgang mit Waffen und Giften erfordert, sondern auch Mitgefühl und Menschlichkeit.



Meine Meinung ...




zum Buch:



Eines der Themen, das Menschen immer und zu jeder Zeit ihres Lebens beschäftigt und beeinflusst, ist der biologische Tod. Er ist das Thema, das uns emotional aufwühlt, einen an die schlimmsten und schmerzlosesten Arten zu gehen erinnert, und Gläubige sowie Atheisten beschäftigt - denn kein Mensch kann sich vorstellen, nach dem Tod nicht mehr zu existieren. Und selbst nicht in unmittelbarem Angesicht des Todes setzt er doch die Maßstäbe in unserem Leben, denn könnten wir nicht sterben, so wäre jede unserer Handlungen, die uns das beste mögliche Leben ermöglichen, bedeutungslos, da wir so ewig Zeit dazu hätten, diese Handlungen umzusetzen.
Eine Buchreihe zu schreiben, die sich mit dieser Abwesenheit eines natürlichen Todes beschäftigt und nur einigen wenigen Menschen das Recht gibt, anderen das Leben zu nehmen, hat somit unglaublich viel Potential. Und wie man es von Neal Shusterman bei gesellschaftlich tabuisierten Themen auch schon in Vollendet gewohnt ist, holt er ziemlich viel daraus raus.

Die philosophischen Abgründe des Todes

Ebenso wie in seiner vorherigen dystopischen Reihe stellt Neal Shusterman unter Beweis, dass er alternative Zukunftsvisionen in gesellschaftlicher Hinsicht wunderbar beleuchten kann. Durch das Schreiben aus verschiedenen Perspektiven kann er das Leben in dieser Zukunft sehr gut beleuchten, besonders durch die Tagebucheinträge der Scythe, die sie von Rechts wegen schreiben müssen und im Netz für jeden zugänglich sind. Er benutzt aber auch die Sichtweisen von Außenstehenden und kleinen Nebenfiguren, um einem Einblicke in die abgestumpften, rein auf das Jetzt konzentrierten Gedanken dieser Menschen zu erhaschen. Es ist gar nicht so unrealistisch, dass Familien fortan wieder in Mehrgenerationenhäusern zusammenleben, diesmal jedoch mit über sechs Generationen, die zum Teil durch die mögliche Verjüngungsprozedur Großeltern beherbergen, die in dem Moment jünger sind als ihre Kinder. Auch das ,,Platschen'' als Trend unter Jugendlichen, worunter das Springen von hohen Gebäuden verstanden wird, ist zwar erschreckend, allerdings ähnlich aufweckend und adrenalingeladen für sie wie Bungeespringen - und egal wie schwer die Schäden sind, letzten Endes kann man sie doch hundertprozentig wieder herstellen.
Und genau deswegen sieht man sich in Scythe einer gleichgültigen Welt entgegen, in dem nichts mehr wirklich von Bedeutung ist. Denn egal wie schwerwiegend ein Unfall ist, schon in derselben Woche ist der Mensch ohne jeden Kratzer. Egal wie viel Wissen einen in der Schule gelehrt wird, es sind nur Methoden, um die ewige Zeit zu überbrücken, denn was könnte man noch lehren, wenn man sich nicht mehr um Jahreszahlen schert, wenn die Menschheit ihre Endlichkeit besiegt und eine utopische Gesellschaft erschaffen hat? Entsprechend dröge und unbesorgt lässt es sich in dieser Welt leben, es sei denn, man steht nun unmittelbar im Angesicht des Todes - die einzige Situation, in der der Mensch überhaupt noch Angst hat.
Neal Shusterman zeigt in diesen Situationen den Egoismus des Menschen auf, der versucht sich durch Schleimereien und Korruption Immunität gegen den Tod zu kaufen, aber auch wie er wegrennt, sich wehrt oder bei dem Spektakel zusieht, wenn er ein Außenstehender ist. Es erfüllt einen mit Abscheu und Mitleid zugleich, während man sich fragt, wie man selbst darauf reagieren würde, wenn ein Scythe einen in seiner Wohnung oder an seinem Arbeitsplatz besuchen und eine Nachlese einfordern würde. Denn obwohl dieser Tod nicht natürlich ist, wirkt er doch genau durch diese Willkür und Plötzlichkeit natürlich: Wir können jederzeit sterben und nichts dagegen unternehmen. Der einzige Unterschied ist, dass man jemandem ausgesetzt ist, der eine Lizenz dazu hat, einen zu töten.
Insofern ist das Buch rein philosophisch betrachtet ein Meisterwerk. Insbesondere in den Tagebucheinträgen der Scythe wird man mit spannenden Gedankenspielen und Vergleichen konfrontiert, die einem das Ausmaß einer solchen Gesellschaft und ihrem Umgang mit dem Tod vor Augen führen. Dadurch wirkt das Ganze unheimlich plastisch und auch nicht so weit von uns entfernt, zumal es Individuen gibt, die KIs für unfehlbarer halten als Menschen.

Die Kunst des Tötens

Einzig der Tod wird als eine derart heikle und Empathie fordernde Sache gesehen, dass eine Künstliche Intelligenz sich nicht darum kümmern kann. Aus diesem Grund verfolgen wir in Band 1 dieser Trilogie hauptsächlich die Ausbildung von Rowan und Citra, die sich beide mit Händen und Füßen dagegen wehren, überhaupt etwas mit dem Scythetum zu tun zu haben. Was für eine Ironie und zugleich ein intelligenter Schluss, dass nur diejenigen dazu auserwählt werden, die Skrupel und hochmoralische Ansprüche haben.
Dabei dient Scythe Faraday als ihr Ausbilder als ein sehr idealistischer Scythe, der seine Lehrlinge emphatisch, aber doch mit strenger Hand führt und ihnen aufzeigt, was einen guten Scythe ausmacht. Es ist sehr bedrückend zu lesen, wie die drei zusammen zur Nachlese aufbrechen und durchs Zuschauen lernen, ebenso wie Shusterman versucht, das Ganze etwas abwechslungsreicher und spannender durch die Übung von Kampfkunst zu machen. Es ist eine allumfassende Lehre, die ihnen Kenntnisse in Geschichte, Philosophie, aber auch im Giftbrauen und der Führung von Waffen vermittelt - und ihnen letztlich droht, alles abzuverlangen. Genau das macht diesen Beruf so spannend, denn durch die Erhebung seiner selbst über den menschlichen Gesetzen wird man nie wieder in der Lage dazu sein, seine Robe oder Arbeitsuniform abzulegen. Man muss ein Scythe mit Herzblut sein, und genau das bereitet Citra und Rowan zunehmende Probleme. Da die Persönlichkeit der beiden nicht allzu ausgearbeitet ist, kann man sich selbst wunderbar in die beiden hineinprojizieren und ihre Gefühle zu seinen eigenen machen.
Shusterman hat in seinem Entwurf dieser Todesboten klare religiöse Referenzen - beispielsweise durch die 10 Gebote des Scythetums sowie ein vierteljährliches Konklave derer Mitglieder -, allerdings macht genau das diese Idee so spannend. Denn Lücken, die man ausnutzen kann, gibt es zahlreiche, und wie in jeder Berufssparte, die als edel gilt, gibt es Korruption und schwarze Schafe, die sich erhoffen, die jungen Idealisten auf ihre Seite zu ziehen. Diese finden es schwachsinnig, sich mit seinen Opfern zu befassen oder gar mit Mitgefühl an das Nachlesen heranzugehen, sondern machen regelrecht einen Sport daraus, Menschen das Leben zu nehmen. Auch die Ausbildung unter solchen Scythes wird ausgelegt, und meine Güte, wenn man danach als Lehrling keinen Knacks bekommt, dann hat mit einem von vorneherein etwas nicht gestimmt.

Eskalation und Schwarz-Weiß-Denken

Der Autor schafft es, einen besonders durch die Ausbildungsinhalte und auch das Hinterfragen bestimmter Handlungen einen gewissen Spannungsbogen zu erzeugen. Man könnte wirklich über jede Szene eine Abhandlung schreiben, in der man die moralische Fallhöhe diskutiert und ob es überhaupt ein Richtig oder Falsch in dieser Lage eines Scythes gibt. 
Doch obwohl Shusterman diese Gedankengänge so differenziert darstellt, kristallisiert sich der Hauptkonflikt eher als simples Gut-und-Böse-Schema heraus. Während die ,,guten'' Scythe allerdings noch etwas Tiefe und Variätät in ihrer Persönlichkeit haben und durch ihren Beruf auch in gewisser Weise gebrochen wurden, sind die ,,bösen'' Scythe sehr plakativ böse. Zwar schafft er es, den Anführer dieser Gruppierung ähnlich charmant darzustellen wie Starkey in der Vollendet-Reihe, der dieselbe Rolle in besagter Geschichte innehatte, allerdings kann er mit einigen Vergehen nur deswegen durchkommen, weil der Autor es ganz klar so will. Logische oder gar politisch verschleierte Gründe werden dem Leser nicht geliefert. Nur so kann der Autor jedoch auch an den Punkt der Eskalation kommen, den er erreichen möchte, weswegen eine so einfache Zeichnung noch verzeihlich ist. Aber ein wenig mehr Motiv als Größenwahnsinn und Narzissmus wären dennoch für die Folgebände ganz nett, auch wenn natürlich klar ist, dass dies die andere Seite der Medaille aufzeigen soll, wenn jemand über dem Gesetz steht und somit eine Machtposition innehat.
Dennoch ist die Eskalation des Konflikts wirklich gut gelungen und fesselt einen an die Geschichte, die man noch am gleichen Tag zu Ende lesen muss. Es ist unglaublich spannend, auch actionreich, und zumindest für eine der beiden Hauptpersonen steht viel auf dem Spiel. Außerdem hat der Autor mit diesem Ende eine Menge Potential für die beiden Folgebände eingeführt, die hoffentlich genutzt werden und die Gesellschaft in eine menschlichere verändern werden.
Und die beiden Hauptfiguren hoffentlich auch, denn wie bereits erwähnt dienen sie eher als Platzhalter für den Leser selbst, damit dieser sich in der Geschichte einfinden und sich wirklich dafür interessieren kann. Auf der einen Seite sind sie dadurch stinknormale Jugendliche, die mit einer solchen Aufgabe natürlich überfordert sind, auf der anderen Seite sind sie dadurch aber nicht sonderlich interessant, sodass Leser der vorherigen Reihe eventuell sogar die anderen Hauptfiguren im Kopf haben. Vielmehr sind es ihre zukünftigen Schicksale, die sie herausfordern und hoffentlich zu interessanten Figuren machen können. Zumindest bei Rowan hat der Autor dafür am Ende dieses ersten Bandes sehr, sehr viel Potential gesetzt.


Scythe: Die Hüter des Todes ist sehr gehyped, und das ist angesichts dieser kontroversen Thematik und der realistischen, doch traurigen utopischen Zukunft auch berechtigt. Der Autor hat ein unglaubliches Talent dafür, die gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Idee von vielen Seiten zu beleuchten und dem Leser viele Denkanstöße zu geben. Dadurch hat die Geschichte einen gewissen Suchtfaktor, ist aber trotzdem alles andere als eine leichte Lektüre für zwischendurch. Der Plot selbst ist zwar nicht so actionreich wie andere Dystopien, geht dafür aber tiefer und zeichnet sich durch die kleinen Dinge aus, die zum Teil auch politisch anmuten. Er zeigt wunderbar, dass der Mensch, auch wenn er alle Hindernisse des Lebens überwindet, doch immer von zwei Dingen gefällt werden kann: Machthunger und Tod. Das Finale und Ende bietet definitiv Stoff für zwei wahnsinnig gute Folgebände. Nichtsdestotrotz hätte er besonders den Antagonisten und die beiden jugendlichen Hauptfiguren stärker ausarbeiten können. Denn wer Themen in solchen Grauschattierungen betrachten kann, der sollte auch solche Charaktere schreiben können.


Ich gebe dem Buch:


4/5 Punkte

CU
Sana

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